Oh, wir sehen gerne schöne Dinge! Am liebsten den ganzen Tag. Und nachts wollen wir von schönen Dingen träumen: schöne Orte, schöne Reisen, schöne Erlebnisse, schöne Menschen.
Es gibt ja auch viele schöne Dinge zu sehen den ganzen Tag, auch viele hässliche, aber eben auch sehr viele wunderschöne Dinge. Und wenn man Glück hat, sieht man manchmal etwas ganz Besonderes.

Ich habe heute eine junge Frau gesehen, die ganz offensichtlich so wunderschön war, dass die Menschen um sie her stehenblieben, sich nach ihr umdrehten und sie anstarrten. Sie war groß und schlank, sie hatte zart gebräunte Haut, klare Haut, pechschwarze Haare, die ihr glatt und glänzend über den Rücken herabfielen und ein perfekt symmetrisches Gesicht mit ausdrucksvollen hellen Augen und einem vollen Mund. Nicht genug, dass sie ganz klar von Gott mit extraordinärer Schönheit gesegnet ist, sie war auch noch gepflegt und unauffällig aber sehr gekonnt gestylt: Nägel, Haare, Haut, da hatte sie nichts dem Zufall überlassen und auch ihre Klamotten waren Understatement-mäßig perfekt.
Sie stand an der Fußgängerampel am Senefelder Platz und ich wartete auf grünes Licht an der Linksabbiegerampel. Und während ich sie betrachtete und leicht amüsiert bemerkte, wie sich alle, wirklich ALLE nach ihr umdrehten, Männer, Frauen und Kinder, näherte sich ihr von hinten eine zweite Person.
Manchmal malt das Leben komische Bilder, nichtsdestotrotz sind diese Bilder eindrucksvoll, gerade wenn man innerlich einmal blinzelt und wieder hinsehen muss, weil irgend etwas nicht zu stimmen scheint. In diesem Fall war es ein Mann mittleren Alters, der das Gesamtbild der Perfektion auf zwei Beinen störte, während er näher kam, besser gesagt: hinkte. Er war klein und untersetzt, die grauen Haare standen strubbelig um den Kopf, auf der Nase hatte er eine schiefe Brille mit colaflaschenbodendicken Gläsern, ein Bein war deutlich kürzer als das andere und die Hose, die von Hosenträgern gehalten wurde, war viel zu kurz, so dass man nicht umhin konnte, seine Behinderung ganz genau zu sehen. Er machte insgesamt den Eindruck, ein wenig desorientiert zu sein und ich bin mir nicht sicher, ob er vielleicht an einem Downsyndrom litt, das konnte ich nicht genau erkennen. Jedenfalls hielt er auf die rote Ampel zu und machte keine Anstalten, stehen zu bleiben, obwohl der Verkehr munter die Schönhauser runter rollte. Er sah zu Boden und hinkte, langsam aber unaufhaltsam und mit rudernden Armen auf die schwarzhaarige Schönheit zu.
Und gerade als ich überlegte, das Fenster runter zu lassen und ihm zuzurufen, er möge stehen bleiben, geschah etwas, dass das Bild wieder perfekt machte, sogar perfekter als vorher, weil die Art von Schönheit, die ich jetzt sah, mitten ins Herz trifft und nicht nur ins Sehzentrum. Auf ihrer Höhe angelangt, nahm sie Notiz von ihm, blickte erst irritiert auf sein nachschleifendes Bein und registrierte dann offenbar schnell seine Verwirrtheit und die Tatsache, dass er nicht vorhatte, an der Ampel stehen zu bleiben.
Sie drehte sich zu ihm und nahm ihn sanft am Arm. Er blickte auf, sah ihr wunderschönes Gesicht und lächelte sie an, ging aber immer noch weiter. Sie ging zwei Schritte mit ihm, sprach mit ihm, zeigte auf die Ampel und hielt ihn zurück. Er, völlig getroffen von dieser Begegnung, strahlte jetzt und nickte, schlug sich mit der Hand vor die Stirn und nickte weiter, den Blick fest auf sie geheftet. Da wurde die Fußgängerampel grün. Und sie, dieses atemberaubend schöne Geschöpf, hielt ihm ihre Hand hin und ging dann Hand in Hand mit ihm in allergrößter Selbstverständlichkeit über die grüne Ampel. Sie unterhielten sich und lachten, und ihre Ausstrahlung war die von zwei ganz und gar glücklichen Menschen.

Meine Ampel wurde dann auch grün und ich bog mit leichtem Bedauern ab, weil ich gerne noch gesehen hätte, wie sie sich verabschiedet hätten, diese beiden. Ein ungleiches Paar, zwei Menschen, die sich vielleicht nie wieder begegnen werden und doch: für diesen einen Moment waren sie ein Bild von wunderbarer Harmonie, von Freundlichkeit und Begegnung.

Und von Schönheit.
Vielleicht träume ich ja heute mal sowas. Schönes.

4 Kommentare

  1. martina van Middelaar Antworten

    Toller Artikel, vielen Menschen wäre das gar nicht so aufgefallen obwohl sie auch an der selben Ampel stehen.
    – Auf schöne Träume und auf das Auge für die kleinen, grossen Dinge :)

  2. Sehr schoen und einfuehlsam beschrieben – Danke. Das tut der Seele gut! Wolfi

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