Mein Herzensmädchen ist seit gestern auf Klassenfahrt. Fröhlich verließ sie das Haus mit ihrem blauen Koffer gen Schule und winkte mir noch mal zu, bevor sie für den Rest der Woche die Stadt verließ.

Es ist Klassenfahrtszeit in Berlin, fast alle Grundschulkinder fahren in diesen Tagen auf Klassenreise, und für die meisten ist das völlig normal. Aber nicht für dieses Kind, mein Kind, meine große Tochter. Denn die Trennungsangst war immer ihre größte Angst und das außer-Haus-Schlafen ein Riesenproblem für sie. Seit der Nacht, in der ihr Bruder geboren wurde und wir sie halb schlafend (wie vorher besprochen) zu einer Freundin brachten, konnte sie nirgends mehr schlafen. Sie war vier.

Aber heute ist sie zehneinhalb, sie hat ihren Koffer komplett alleine gepackt (“Ich mache das lieber alleine, Mama, schließlich muss ich den am Freitag auch wieder alleine packen…”) und ist glücklich und aufgeregt zu ihrer Klassenreise aufgebrochen, wo dieselbe Situation im letzten Jahr doch noch ein einziges Drama war, voller Tränen, Ausbrüche und Panik. Ich bin erstaunt, stolz und hingerissen davon, wer sie seitdem geworden ist, wie sie sich entwickelt hat und was sie alles kann. Sagen kann ich es ihr heute nicht, aber schreiben kann ich es ihr.

Mein Mädchen,

jetzt bist du verreist. Ich denke jeden Morgen daran, was du jetzt wohl machst, jeden Mittag darüber nach, ob du wohl reiten warst oder schwimmen, und jeden Abend frage ich mich, ob es dir gut geht. Hast du Heimweh? Tröstest du dich mit deinem Lieblingsbuch, beim Quatschen mit deiner lieben Freundin oder ist es dieses Jahr überhaupt nicht so schlimm wie im letzten? Wie bisher immer?

Ich bin gespannt, was du erzählen wirst, wenn ich dich am Freitag an der Schule abhole, aber wie ich dich kenne, wirst du extrem cool tun und mir von den ganzen tollen Sachen berichten, die du erlebt hast und erst abends, wenn wir zu Hause sind und du zum Kuscheln und Reden zu mir ins Bett kommst, wirst du mir vielleicht erzählen, wie die Nächte und die Abende waren und was du gemacht hast, um dein Heimweh zu bekämpfen.

Wie stolz ich auf dich bin! Ich bin natürlich immer stolz auf dich, genau wie auf deine Geschwister, denn ihr seid für mich und euren Vater die liebsten, besten, wunderbarsten Geschöpfe der Welt und unser ganzes Glück. Aber heute, diese Woche, JETZT, bin ich wahnsinnig stolz darauf, was du im letzten Jahr geschafft hast. Du bist immer selbstbewusst gewesen und hast dich vor allem nach außen stets möglichst unverwundbar und überlegen gegeben – vor allem während deiner harten Zeit in der dritten Klasse. Aber in den letzten zwölf Monaten hast du dieser Haltung, dieser Attitüde, so viel hinzugefügt und hast es geschafft, das tatsächlich zu sein: ein selbstsicheres Mädchen, das sich freundlich und bestimmt behaupten kann, wenn es sein muss, das neugierig und offen in neue Situationen geht und das sich nicht so leicht entmutigen lässt, wenn die Dinge mal nicht so rund laufen.

Ich sage das nicht so richtig gern, das gebe ich zu, aber du bist gerade dabei, ein bisschen erwachsener zu werden. Nicht nur, weil du tatsächlich groß bist, mein langes Luder, wie ich immer sage, nein. Du bist innerlich gewachsen. Du hast dich mit deinen bösesten Ängsten konfrontiert und bist sie angegangen – jetzt stehst du da und kannst ihnen lachend entgegensehen. Das ist wirklich unglaublich mit anzusehen und es macht mich wahnsinnig glücklich, dich dabei begleiten zu dürfen.

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“Wirf deine Angst in die Luft!” {Rose Ausländer}

Du hast deine Angst in die Luft geworfen, die größte Angst, die du kennst: Verlustangst. Seit deinem endgültigen Abschied von deiner geliebten Oma ist diese Angst für lange Zeit deine tägliche Begleiterin gewesen, und ich denke mit Schrecken an die Zeit, in der ich manchmal nicht wusste, wie ich dir helfen sollte, das zu meistern. Aber du hast es geschafft.

Als du vorgestern nacht vor lauter Aufregung nicht schlafen konntest und zu uns aufs Dach kamst um zu quatschen, dachte ich kurz, jetzt würden all die Finsterlinge vom letzten Jahr wieder anklopfen und dich mit sich reißen. Aber du warst nur voller Vorfreude und konntest nicht aufhören zu plappern bei der Vorstellung von all dem, was du erleben würdest. Und als du gestern morgen fröhlich lächelnd und ohne auch nur den Hauch von Bedauern, Abschiedsschmerz oder Anspannung das Haus verließest, bin ich fast geplatzt vor Stolz auf dich.

Ich weiß, dass du das alles kannst. Das wusste ich immer, auch in den schwereren Tagen und auch im letzten Jahr, als du so verzweifelt warst und nicht wusstest, wie du diese dunklen Gefühle beherrschen solltest. Aber jetzt weißt du es auch. Das habe ich gestern in deinen Augen gelesen und in deinem frohen Lachen gesehen. Und das macht mich unendlich glücklich.

Wenn du am Freitag zurück kommst, werde ich dir sagen, dass ich dich wahnsinnig vermisst habe. Und du wirst lachen, das weiß ich, und wirst mich umarmen und in deiner unvergleichlichen Art “Och, Mama, kleines Mamilein…!” sagen. Und dann essen wir zwei eine Riesenportion von unserem Lieblingssushi, nur du und ich, bevor wir die Kleinen abholen und dein Vater nach Hause kommt und ich dich mit den dreien wieder teilen muss.

Meine liebste große Tochter.

Last Updated on 15. November 2018 by Anna Luz de León

13 Comments

  1. Hachz* Nun sitz ich hier und flenn.. Das hast du schön geschrieben.
    Ich liebe Liebesbriefe an die eigenen Kinder. <3
    Eine angenehme Woche und gute Besserung!!

    GLG von der Ostsee

  2. jetzt muss ich grad arg tränchen wegkniepern. ich wünsche mir aus tiefstem herzen einmal genau so eine schöne beziehung zu meiner großen tochter zu haben.

  3. So schöne Worte!!! Wir haben hier eine ähnliche Konstellation zu Hause. Mein großes Mädchen ist ebenfalls 10 Jahre und erinnert mich an dein Herzensmädchen. Seit ihrem 10. Geburtstag hat sich für sie eine neue, aufregende Welt geöffnet. Großartig zu beoachten!

  4. Inga von Thomsen (@IngavonThomsen) Reply

    Sehr schön “anrührig” – und toll, dass du so etwas schreibst!
    Ganz herzliche Grüße nach Berlin!
    Inga

  5. Florentine Wauschkuhn Reply

    Schnief, schneutz. So schön geschrieben. Das steht mir alles noch bevor, aber wenn es mal soweit ist, hoffe ich eine genauso tolle Beziehung zu meinen Kindern zu haben.
    Ganz liebe Grüße,
    Florentine

  6. So herzerwärmend schön ♡ mein Pre Teen Junge und ich haben gerade nur noch Streit und das macht mich unendlich traurig. Umso schöner zu lesen dass es auch anders geht.

  7. Liebe Anna,

    Du hast wieder so schöne Worte gefunden! Und ein so schönes und großes Mädchen!
    Eure Geschichte macht auch Mut, sie zeigt wie Ängste überwunden werden können und die Dinge sich mit Zeit, Geduld, Liebe und der Entwicklung des Kindes (und der Eltern ;) zum Guten wenden.

    Danke!

    Juli

  8. War bei mir hier gestern genau so!
    Vor zwei Montaen erst hatte der Große so schlimmes Heimweh – eine Nacht bei einem guten Freund von ihm war nicht möglich…
    Doch gestern zur Klassenfahr war davon nichts zu spüren.
    Bin sehr gespannt, was er Freitag zu erzählen hat!
    Wir können uns also beide auf Morgen freuen :o)
    VG
    Dine

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  10. Ekarterina Grohnwaldt Reply

    Echt super.Dieses Brief hat mir richtig gut gefallen und geholfen. Danke danke noch mal

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