Letzte Woche war ich mit den Kindern am Grab meiner Mutter – eins unserer Trauerrituale, die sich etabliert haben. Wir machen das jedes Mal, wenn wir in der alten Heimat sind und jedes Mal berührt es mich. Das Grab ist der Ort geworden, an den ich konkret gehen kann, dort kann ich Blumen einpflanzen oder aufstellen, Kerzen anzünden und eine liebevolle Geste da lassen. Ich habe wenigstens für den Moment das Gefühl, ich könnte noch etwas für meine Mama tun, auch wenn es nur ein kleines Ritual der Widmung und der Trauer ist.

Trauerrituale und konkrete Orte für die Trauer

Aber ich gehe gern ans Grab, und vielleicht hat das mit meiner katholischen Sozialisation zu tun, denn ich erinnere mich an die Gänge “auf’s Grab” zu allen möglichen Anlässen im Kirchenjahr als etwas durch und durch Positives. Ich liebte meine Großeltern und die Schwestern, den Bruder und die vielen Cousinen meiner Mutter und natürlich meinen eigenen Cousinen und den einen Cousin, und all diese lieben Menschen trafen sich dann und standen am Grab beispielsweise der Urgroßeltern. Und es wurde geredet, gelacht, Kerzen angezündet, Blumen arrangiert, manchmal wurde gesungen und in meiner Familie wurde auch Jagdhorn geblasen. Für mich als Kind ein durch und durch positiver Kontext, schließlich hatte ich keine persönliche Beziehung zu den Menschen, an deren Gräbern wir uns trafen. Es waren einfach nur Gräber, die man besuchte, wo man Blumen und Kerzen aufstellte, liebevolle Geschichten aus der Familie erzählte und sich dankbar und fast heiter an die Verstorbenen erinnerte. Dass das auch Trauerrituale waren, war mir als Kind gar nicht klar.

Trauerrituale | Berlinmittemom.com

Schwierig wurde es erst, als wir Menschen begraben mussten, die ich nicht nur kannte, sondern liebte. Meine Freundin, die an einem Hirntumor starb, als ich gerade dreizehn war und deren Familie sich auf eine Weise nie von diesem Verlust erholte. Meine Cousine, die sich das Leben nahm, als ich gerade siebzehn war und deren Tod die Familie ins Bodenlose stürzte. Denn natürlich zog dieses Erlebnis vor allem ihre Eltern und ihre Schwester den Boden unter den Füßen weg, aber auch meine Großeltern waren wie tödlich getroffen und ich selbst und meine Geschwister und Cousinen, sowie natürlich meine Eltern waren für lange Zeit unendlich traurig. In dieser Situation habe ich das erste Mal in meinem Leben erfahren, dass Trauer um einen geliebten Menschen etwas ist, das einen für immer verändert.

Konkrete Trauer: Trauerrituale zur Verarbeitung von Verlust

Ich schrieb schon mal über die Bedeutung von Tod und Geburt, aber für mich ist es so: sowohl der Tod und die Geburt eines Menschen verändern die Betroffenen drum herum nachhaltig und unwiderruflich – im Positiven wie im Negativen. Die Konstellationen und Rollen ändern sich bei beiden Ereignissen und wer eine dieser beiden existentiellen Situationen einmal durchlebt hat, kann hinter diese Erfahrung nicht zurück. Wir sind danach unwiderruflich verändert und wir wissen es. Die Liebe, die wir empfinden, die Trauer, den Verlust und die große Freude sind Emotionen, die sich von nun an für immer anders anfühlen werden. Und diese Erfahrung weicht nicht mehr von uns, keins dieser Gefühle wird sich wieder so leicht und unschuldig anfühlen, wie vor der Erfahrung von Tod und/oder Geburt.

So war es nach dem Tod meiner Cousine. “Auf’s Grab gehen” war nicht mehr dasselbe wie zuvor, plötzlich stand ich am Grab eines Menschen, der zuvor in meinem Leben immer da gewesen war und von dem ich mich nun unwiderruflich verabschieden musste. Und ich sah die tiefe Trauer der geliebten Menschen um mich herum, ich erlebte erstmalig, dass die Erwachsenen um mich herum so sehr an ihren emotionalen Grenzen waren, dass sie sich nicht zu helfen wussten. Ich sah, wie dieses Ereignis meinen lebensfrohen, lustigen, stets positiven Onkel für immer veränderte. Seine Grundheiterkeit verlor er nicht, aber von nun an lag ein Schleier über seinem Lächeln, die Trauer war sein stetiger Begleiter. Mein Großvater sprach überhaupt nicht über das, was geschehen war, aber er war zutiefst verletzt und auch verunsichert. Und meine Großmutter hatte um dieses Ereignis herum ihre ersten leichten Schlaganfälle, wenn ich mich recht erinnere, und wir waren alle fast erleichtert, dass sie in diesem Kontext nicht ganz zu begreifen schien, was geschehen war. Aber ich glaube, sie verstand es sehr wohl und ich sehe ihre blauen Augen voller Tränen und mit einem tiefen Begreifen des Unbegreiflichen noch vor mir.

Und so ging es weiter. Meine Großmutter starb sieben Jahre später, mein Großvater überlebte sie um sechs weitere Jahre und jedes Mal traf es mich wieder, kam die Trauer um die bereits vorangegangenen Menschen aus meinem Leben wieder an die Oberfläche. Die Bedeutung dessen, was Verlust eigentlich ist, die Auseinandersetzung mit dem Schmerz, den der Verlust auslöst und dem Begreifen, dass ich diese geliebten Menschen, meine Familie, nie mehr sprechen, nie mehr umarmen, nie mehr wiedersehen würde, verknüpfte sich immer nachdrücklicher mit dem Ereignis des Begrabens und auch mit den Besuchen am Grab. Es war nicht mehr nur leicht und heiter, es war schwer geworden.

Am Grab | Berlinmittemom.com

Trauer als Normalität: Einer fehlt für immer

Dennoch. Wenn ich in meine Heimatstadt fahre, besuche ich das Grab meiner Mutter, weil es der einzige konkrete Ort ist, an den ich gehen kann, wenn ich zu ihr möchte. Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch in Koblenz nach dem Tod meiner Mutter. Es war Herbst und ich kam zum Sechswochenamt in die Stadt. Ich war bis Köln geflogen und hatte mir am Flughafen einen Mietwagen genommen und als ich über die Bundesstraße in die Stadt fuhr, führte mich mein erster Weg ans Grab. Ich stand zum ersten Mal alleine dort, die Blumen und Kränze der Beerdigung waren abgeblüht und weggeräumt, niemand war bei mir, keine Kinder, denen ich Dinge erklären musste, nur ich – am Grab meiner Mutter.

Und sie war auch nicht dort. Natürlich nicht! Aber ich rückte ein bisschen was zurecht auf dem Grab, hängte ein kleines Rosenkränzchen an ihr Holzkreuz und dachte darüber nach, was wir aufs Grab pflanzen könnten, damit es ein bisschen so wäre, wie ihr Garten, den sie so geliebt hat. Ich hatte das Gefühl, ich würde etwas für sie tun, etwas Schönes, das ihr gefallen würde, indem ich den einzigen Ort in ihrem Sinn gestaltete, der ihr noch geblieben war. Und obwohl es nicht leicht und nicht heiter dort war, niemals leicht geworden ist, obwohl die Besuche am Grab meiner Mutter nie auch nur im Entferntesten mit den “geselligen” Grabgängen meiner Kindheit zu tun haben, gehe ich gerne dorthin.

Mit der Trauer um einen geliebten Menschen ist es nämlich so: sie legt sich wie eine Grundmelodie in unsere Herzen und dort bleibt sie. Auch wenn schöne Tage kommen ohne diese Person, helle Tage voller Lachen und Freude und Glück, klingt die Grundmelodie immer mit. Damit lebt man weiter, der Verlust hinterlässt auf diese Weise die unauslöschliche Spur in uns und klingt nach. Für immer.

Und vielleicht ist das Grab für mich der einzige Ort, an dem diese Grundmelodie so laut wird, wie sie es verdient hat. Der Ort, an dem die Trauer ihren Platz hat und sich Gehör verschaffen darf. Der Ort, an dem ich ein bisschen die Dinge richte, es meiner Mama schön mache, Unkraut zupfe, Blumen aufstelle, Kerzen anzünde, mich über die Jahreszeiten auf dem besonders naturnahen Friedhof freue – und zugleich unendlich, unsäglich, untröstlich traurig bin, dass ich nie mehr mit ihr sprechen, sie nie wieder sehen, sie nie wieder lachen hören werde.

Vielleicht sind Gräber genau dafür da. Nicht, damit wir die geliebten Toten nicht vergessen, denn das könnten wir ohnehin nie. Sondern damit wir einen Ort haben, an dem wir die Trauer auch noch nach Jahren spüren und zulassen können, die wir im Alltag unsichtbar mit uns tragen.

Last Updated on 6. Juni 2019 by Anna Luz de León

13 Kommentare

  1. Liebe Anna,

    das hast Du ganz wundervoll geschrieben!

    Herzliche Grüße

    Sonja

  2. Liebe Anna,

    Du hast mir aus dem Herzen geschrieben! Danke schön!! Ich bin -leider- so selten am Grab meiner Eltern, aber wenn überkommt mich eine immer noch traurige, aber auch nicht schlimme Ruhe! Ich kann mit ihnen reden und sie werden immer mein Leben begleiten!

    Liebe Grüße Ingrid

  3. Wunderschön geschrieben. Mir standen die Tränen in den Augen…

    Bisher hatte ich "Glück", nur wenige Menschen gehen lassen zu müssen. Aber auch das wird sich irgendwann ändern. Danke, wieder einmal, für deine schönen und wahren Worte!

    LG, Silke

     

  4. Wieder so schön geschrieben… Danke für diesen Beitrag und das Gefühl, unseren geliebten und wichtig(st)en Menschen so nah zu sein. Geburt, aber vor allem Verlust durch Tod, verändert alles in einem. Manchmal habe ich schon gedacht, man ist dadurch ein ganz anderer Mensch geworden. Für viele vielleicht auch erschreckend zu sehen, aber die Intensität, mit der man lebt und liebt, ist eine ganz andere geworden (gerade den eigenen Kindern gegenüber). Vielleicht ist das auch etwas Positives, obwohl die Stimmung beim Gedanken an die verstorbenen Menschen bei mir immer eine ganze Weile einen traurigen Beigeschmack hinterlässt.

     

    "Die Liebe der Mutter zu ihren Kindern ist ein Brücke zu allem Guten: im Leben und in der Ewigkeit."

    (türkisches Sprichwort)

  5. Anna diese Worte treffen mich mitten im Herz und in meiner Trauer um mein Baby, das nun bei den Engeln als Stern ist. 

     

  6. Liebe Anna, Danke aus tiefstem herzen…. meine Mama ist vor 5 Wochen von uns gegangen. Ich bin erwachsen und fühle mich trotzdem als Kind und so leer! Deine Zeilen … zeigen man ist nicht allein mit Trauer! Ich pflege auch Mamas Grab und möchte dass dieser Ort ein "schöner" Platz wird! Ich trage sie immer bei mir aber dort bin ich ihr am nächsten obwohl ich das so nie gedacht hätte! Danke für deinen sehr persönlichen Einblick in dieser sehr schnellen Welt….

    grüsse aus wien

  7. "Mütter sterben nicht. Sie sind tief in uns verwurzelt wie Bäume." Der Verlust wiegt schwer, man macht weiter, der Alltag geht seinen gewohnten Gang, doch wie du sagst, es verändert einen. Ich vermisse meine Mutter so sehr, aber ich spüre sie dennoch und weiß, dass sie da ist und dass sie mich nicht verlassen hat. Das tröstet mich.

    Danke für deine berührenden Worte. Eine Umarmung. Anna

  8. Jetzt liege ich mit Tränen in den Augen im Bett. Danke für diesen berührenden Text. So weise und warm.

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