Ein Wochenende im Westerwald. Endlich.
Bis Freitag morgen glaubte ich nach dieser turbulenten Woche noch kaum daran, aber wir haben es wirklich alle dorthin geschafft. Ins Haus meines Vaters und seiner Frau, unserer liebsten Viola (nein, so heißt sie nicht, das ist nur die Familienübertragung des unschönen Wortes Stiefmutter).

Gleich nach unserer Ankunft herrscht eine wunderbare Großeltern-Kinder-Idylle: Spiele werden gespielt, Witze werden erzählt und langsam aber sicher breitet sich die Ursuppe aus mitgebrachten Schleich-Elfen, Dinos, Barbies, Büchern, Stiften und Zeichenpapier, Schuhen, Kuscheltieren und Puppenkleidung überall aus. Mittags gibt’s eine Suppe, dann gehen wir zu einem Kochkurs und die anderen Großeltern mit den Kindern zu einem Martinszug…

… ich bin mitten drin im wunderbaren Großfamilienleben, das wir in Berlin oft vermissen. Ich bin zu Hause.

Und das ist für mich auf eine Art eine Überraschung.
Denn dieses Haus, in dem mein Vater mit seiner Frau schon seit fast 13 Jahren lebt, war bis letztes Jahr niemals unsere Anlaufstelle, wenn wir hier her kamen – das war immer das Haus meiner Mutter.
Das war mein Zuhause, das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, der Garten, in dem ich gespielt habe, die Straßen, in denen ich Rollschuh lief, Gummitwist und Hickelkästchen spielte und mir die Knie aufgeschlagen habe. Dort kenne ich alles, jeden Baum, den ich beklettert habe, jede Rodelstrecke, die Nachbarn, deren Kinder, deren Enkelkinder. Und auch für meine Drei war es immer so: hierher zu fahren hieß, “zur Oma fahren”: in ihr Haus. Ihren Garten. Mitten hinein in ihr bewegtes Leben, in dem die Kinder ihren festen Platz hatten.

Es ist allerdings mitnichten so, als sei das bei den anderen Großeltern anders gewesen. Bei meinen Schwiegereltern, genau wie bei meinem Vater und “Viola”, war vom ersten Tag des Großeltern-Seins der Stellenwert der Kinder unglaublich hoch. Ich habe immer sehr dankbar und auch sehr berührt wahrgenommen, dass meine Kinder von allen Großeltern vorbehaltlos und innig geliebt werden – da waren die Gefühle meiner Mutter sicherlich nicht größer, als die der anderen (wenngleich sie ihnen sicherlich in ihren expressiven Art oft besonders ungehemmt Ausdruck verliehen hat). Aber es fand eben alles bei ihr statt und das hat auch für meine Kinder das Gefühl “zu Hause” an diesen Ort und auch an diese Person, diese Oma, gekoppelt.

Sie war diejenige, bei der alle Feste gefeiert wurden, bei ihr trafen sich alle, sie war der Knotenpunkt und das Herzstück der Familie.

Das alles war plötzlich weg, als sie starb. Und nicht nur hinterließ sie in unseren Herzen schmerzende Wunden, auch der konkrete Ort “zu Hause bei Mama/Oma” existierte nicht mehr. Schon in ihren letzten Lebenswochen und Monaten veränderten sich die Dinge ganz allmählich. Sie wurde krank und kränker, sie war zu schwach, um Dinge mit uns zu unternehmen, später auch, um am Familienleben in ihrem eigenen Haus teilzunehmen: Mahlzeiten, Spiele, Gespräche. Zunächst saß sie noch dabei, dann konnte sie kaum noch die Treppe bewältigen und verbrachte die meiste Zeit in ihrem Bett. Ein letztes Mal hat sie uns zu Pfingsten 2011 alle versammelt. Anlass war eine von ihr organisierte Party zum Examen meiner Schwester, und in einem unglaublichen Kraftakt schaffte sie ein letztes Mal diese Atmosphäre für uns alle: die große Familie versammelt, viele liebe Freunde dabei, Musik und gutes Essen, jede Menge Wein, der Garten voller Blumen und Lichter – so ist es immer gewesen bei uns zu Hause. Es war ihr Abgesang.

Es folgten die Wochen des Sterbens auf der Palliativstation, eine fast unerträglich intensive Zeit.
Ihr Haus, das Haus unserer Kindheit war da schon nur noch ein verlassener Ort mit verwaistem Garten. Alles stand still, nichts Lebendiges war mehr übrig und ich fühlte eine große Fremdheit dort. “Zu Hause” war weitergezogen.

Mein Bruder, meine Schwester und ich begleiteten unsere Mutter beim Sterben, täglich. Wir gingen über Friedhöfe und suchten eine Grabstelle aus. Wir benachrichtigten FreundInnen und Familie und sagten allen, sie könnten kommen und sich verabschieden. Wir übernachteten abwechselnd im Sterbezimmer unserer Mutter. Wir sprachen ständig mit der wunderbaren Oberärztin, den Schwestern und Pflegern, mit jedem, der zu Besuch kam. Wir redeten mit unserer Mutter, wir beteten mit ihr und sangen Lieder mit ihr, wir sagten Gedichte auf, wir gingen in die nahe Kirche und zündeten Kerzen an. Wir lasen uns und ihr vor, wir brachten ihr ihre Lieblingsbettwäsche und Tomaten, Kräuter und Blumen aus ihrem Garten, wir tranken Wein mit ihr und wir lachten mit ihr.
Zu Hause war für kurze Zeit auch dort, in diesem Zimmer auf dieser Station.

Denn wir waren keine Sekunde allein dort. Unser Vater war da, tage- und nächtelang. Er und Viola waren immer an unserer Seite, weinten, lachten, sangen mit uns, blieben mit uns wach und redeten mit uns. Über alles. Die Familie war da, die Geschwister meiner Mutter, ihre liebsten Freundinnen, ihre WegbegleiterInnen und unsere quasi-Schwestern… wichen uns nicht von der Seite und sorgten für uns, als wir uns um unsere Mutter sorgten.
“Zu Hause” hatte ein neues Gesicht bekommen: es waren auf einmal viele Gesichter.

Zu Hause sein. Dieses Gefühl hat sich für mich seit der Zeit so erweitert und mit noch mehr Leben gefüllt, als zuvor. Ich hätte es damals wohl kaum formulieren können und vielleicht hört es sich komisch an, aber mit dem absoluten Verlust meines Ur-Zuhauses haben sich um mich her Türen geöffnet, hinter denen sich viele neue Facetten von Heimat offenbarten – sie waren immer da, ich habe sie nur nie so betrachtet.

Meine Mutter starb. Das Haus stand über ein Jahr leer und wurde dann vermietet. Am traurigsten machte mich immer der Anblick des verlassenen Gartens, den sie stets so geliebt und gehegt hat. Dieses Zuhause gibt es nicht mehr, diese Zeit ist endgültig vorbei.
Dennoch: in mir ist es unauslöschlich, so wie meine Mutter in mir unauslöschlich ist und in allem weiterlebt, was ich tue. So wie sie unauslöschlich ist in meinen Kindern, ihren Erinnerungen, den Liedern, die sie singen, den Spielen, die sie spielen, ihren Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten.

Und mit dem Verlust und der Absolutheit hat sich der Begriff  “zuhause-sein”, das heim-at-liche Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit, Wärme gewandelt. Das passierte nicht mit einem Schlag, es ging ganz allmählich. Einige Aspekte dieses Gefühls waren vorher schon da und sind stärker geworden, andere waren mir nicht einmal bewusst. Aber ich habe das Gefühl, eine Vielzahl von möglichen Heimat-orten gewonnen zu haben.

Zu Hause ist, wie schon zuvor, unser Berliner Zuhause, sind die Kinder, der Mann und ich, jeden Tag. Zu Hause sind meine Geschwister und ich: wir drei von einem Blut, mit derselben Geschichte, derselben Herkunft, geteilter Liebe, geteiltem Leid, egal, wo wir sind. Zu Hause ist jetzt auch der Westerwald, das Haus meines Vaters, die beiden Herzen gefüllt mit Liebe für uns, die dort an uns denken. Zu Hause ist bei meinen Schwiegereltern, die mit Kinder-Lieblingsessen und voller Vorfreude darauf warten, dass wir kommen. Zu Hause sind die offenen Arme der Menschen, die uns begleitet haben, die meiner Mutter in Liebe verbunden waren und sind und die jetzt, nachdem sie nicht mehr da ist, uns nicht (ver)lassen.

Home is where the heart is. Home is where my bunch of crazies are.

Dafür bin ich so unendlich dankbar, jeden Tag.

Last Updated on 13. November 2012 by

3 Comments

  1. Liebe Anna,

    interessant, dass du diesen Blogpost “Facetten von Heimat” nennst, denn genau: Heimat und Zuhause sind nicht dasselbe. Ich habe mir neulich darüber Gedanken gemacht, was Heimat für mich ist, und kam zu der Formulierung, dass sie ein Ort ist, denn es früher einmal gab. Ein Zuhause kann man sich überall schaffen, eine Heimat nicht.

    Falls du magst, hier sind meine Gedanken:
    https://mama-arbeitet.de/gestern-und-heute/heimat-dichte-wichte

    Herzlichen Gruss, Christine

  2. Pingback: abschied vom rhein ::: 66/365 | Poems for a lifetime

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