“All you have shall some day be given;
Therefore give now, that the season of giving may be yours.” (Khalil Gibran)

Heute habe ich viele Gründe, um dankbar zu sein und könnte meine Liste mit mehr als nur drei Punkten füllen. Wir hatten das traditionelle Schulkonzert zur Weihnachtszeit und der Lieblingsbub, Hand in Hand mit seiner besten Freundin, sang aufs Zauberhafteste, so dass ich heulen musste. Das wäre so ein Punkt. Und das Goldkind hatte einen Ausflug ins Puppentheater und hat mir begeistert die lustigsten Sachen davon berichtet. Auch so ein Punkt. Das Herzensmädchen ist den ganzen Weg von der Schule zur Kirche gerannt, um noch rechtzeitig da zu sein, damit sie ihren Bruder singen hören kann. Und sie kam mit roten Bäckchen an, glücklich, es geschafft zu haben und strahlte vor Stolz über ihren kleinen Bruder auf der Bühne. Noch ein Dankbarkeitspunkt. Zack. Einfach so, als wäre es nichts.

Dann erzählt unser Schulleiter nach dem Konzert von den syrischen Flüchtlingen, die gerade ganz in der Nähe der Kirche in einem Krankenhaus untergebracht worden sind, sechzig Menschen, die nichts mehr haben, traumatisiert und heimatlos, viele junge Männer, ein paar Kinder, gestrandet in einem fremden, dunklen Land, ohne zu wissen, was als nächstes passiert oder ob sie ihre Heimat je wiedersehen oder was sie erwartet. Ihr Leben, wie sie es bisher kannten, ist vorbei.

Und da sitzen wir in dieser Bank in der Kirche, mit unseren drei glücklichen gesunden Kindern, die voll sind mit Energie bis oben hin und die wir lieben dürfen, bis sie überlaufen, jeden Tag. Die wir zur Schule schicken und mit ihnen zum Arzt gehen können, die in ihren warmen Betten liegen an jedem Abend und die in unsere Arme flüchten können, wann immer irgend etwas in ihren behüteten Leben nicht glatt läuft. Sie leben in Frieden. Nichts um sie herum ist wirklich in Unordnung, alles ist richtig und an seinem Platz und es gibt nichts, das ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre körperliche oder seelische Unversehrtheit bedroht. Sie sind im Paradies. Wir sind im Paradies.

Die Caritas versorgt die Flüchtlinge so gut sie können mit allem, was gebraucht wird – mit den puren Basics wie Decken, Kleidung und Essen. Und auf die Schnelle so kurz vor den Weihnachtsferien kann die Elternschaft der Schule nichts weiter organisieren, vor allem, weil wir gar nicht wissen, was sinnvoll wäre zu geben. Spenden werden gesammelt für Kleidung und im Januar wird die Caritas signalisieren, was wir noch tun können. Also sitzen wir da alle, mitten in unserer glücklichen Weihnachtsvorbereitungsstimmung, getroffen von dieser krassen Wahrheit des Elends anderer Menschen und fahren nach Hause, die Kinder glücklich und aufgedreht und übermüdet und dann zänkisch und nehmen diese Gedanken und Fragen mit: was können wir tun? Was können wir geben? Was würde man sich vorstellen oder zu wünschen wagen, wenn man selbst in dieser Situation wäre? Aber dieser Gedanke ist zugleich unendlich abstrakt und unvorstellbar und wir schaffen es nicht, uns hinein zu versetzen – aus unserem Paradies in dieses Elend. Nichts mehr zu haben, als das blanke Leben. Das ist nicht mal in der Nähe dessen, was wir hier unter Elend verstehen.

Also nehmen wir zu Hause angekommen in unserer Hilflosigkeit alle bereits gekauften Weihnachtssüßigkeiten und einige selbst gebackene Plätzchen und füllen alles in Cellophantütchen, die wir mit Schleifen zu binden. Das ist das Einzige, was wir im Moment und auf die Schnelle geben können, weil in der jetzigen Situation noch unklar ist, was genau gebraucht wird und wie viel von was. Also stehen wir da, die Kinder und ich und packen Tütchen für die Flüchtlinge. Und der Lieblingsbub sagt, er möchte ihnen sein Lebkuchenhäuschen schenken und was zum Spielen. Er möchte unbedingt Schuhe und Kleidung und Bücher abgeben und zerfließt vor Mitleid – und drückt dabei genau aus, was ich fühle. Die Hilflosigkeit, das Entsetzen, den Wunsch zu helfen und etwas zu geben, nicht nur von dem Überfluss, sondern von der Sicherheit in der wir leben.

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Und das ist genau das, was nicht geht. Naschtüten packen für Flüchtlinge aus Syrien ist naiv. Sie sind wie ein Pflaster auf einem Krebsgeschwür. Sie können die Traumata dieser Menschen nicht auflösen, sie wärmen nicht, sie ersetzen kein Heim und schon gar nicht helfen sie gegen die Trauer und Verzweiflung nach dem Verlust eines geliebten Menschen. Vielleicht sind sie einfach nur eine Geste der Hilflosigkeit von Menschen wir ich einer bin – jemand, der in Liebe und Sicherheit aufgewachsen ist und das Glück hat, genau das weitergeben zu dürfen.

Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht sind sie gar nicht so schlecht, weil sie möglicherweise ausdrücken, was wir sagen wollen: “Wir wissen, dass Naschtüten nicht das sind, was ihr am dringendsten braucht. Wir haben keine Ahnung davon, was ihr durchgemacht habt und wie es euch geht und wir können nichts wieder gut machen von dem, was euch widerfahren ist. Aber ihr seid nicht allein. Und ihr seid willkommen.”

Ich weiß nicht, was man tun kann, um von der eigenen Sicherheit, dem Überfluss an Liebe und Sorglosigkeit abzugeben. Aber ich weiß, dass wir dringend etwas geben müssen. Nicht nur Naschtüten und abgelegte Kleidung und Spielzeug und Bücher. Auch wenn das alles wichtig ist und passieren muss. Wir müssen unsere Herzen und unsere Arme öffnen für diese Menschen, die nichts mehr haben als ihre bloße Existenz. Sie brauchen Trost und eine Perspektive, sie brauchen die Chance auf Heilung und sie brauchen ihre Würde.  Wir müssen weg von diesem #pegida-Mist, und es reicht nicht, sich darüber aufzuregen oder auf eine Gegendemo zu gehen, auch wenn natürlich auch das wichtig ist und passieren muss. Aber es muss mehr sein. Es muss mehr von uns sein.

Wir müssen Zeichen setzen dagegen. Wir müssen das Geben vorleben und ernst meinen. Wir müssen zulassen, dass uns diese Menschen berühren, indem wir sie nicht nur als “die Flüchtlinge” sehen, sondern vor allem als Menschen, denen Furchtbares widerfahren ist. Wir müssen verstehen, wie privilegiert wir sind und darin unsere Verantwortung erkennen, zu teilen. Zu geben. Von Herzen und mit vollen Händen zu geben.

Wenn wir das nicht tun, sind wir die ärmsten Kreaturen auf Gottes weitem Erdboden.

Passt auf euch auf.

signatur

Last Updated on 25. Juli 2016 by Anna Luz de León

15 Kommentare

  1. Liebe Anna,
    Danke.
    Ich fühle mich auch gerade so hilflos. Es ist unvorstellbar was sie erlebt haben. Und wir haben nicht ansatzweise eine Ahnung, was es bedeutet fliehen zu müssen.
    Aber ein Tütchen mit Süßigkeiten drückt zumindest aus: wir denken an Euch. Ihr seid nicht allein.
    Liebe Grüße
    Suse

    • Liebe Suse, ich finde es so schwer, diese Hilflosigkeit zu akzeptieren. Wir sind so gewöhnt, für alle Probleme irgendwelche Lösungen zu suchen und sie auch zu finden. Aber bei manchen Dingen gerät man einfach an eine Grenze. Da kommt man mit dem pragmatische Problemlösen (Kleidung, Essen, Schlafplätze organisieren) nur bis zu einem bestimmten Punkt – und ab dann braucht es etwas anderes. Ich wünsche mir, dass wir alle bereit sein werden, auch das zu geben, wenn wir die Gelegenheit dazu bekommen. Ich drück dich aus der Ferne, meine Liebe!

  2. Liebe Anna,
    ich denke, Naschtüten packen ist keinesfalls naiv! Es heißt: Ihr seid uns willkommen! Und das kann so viel sein, wie ich meine!
    Lieben Gruß
    Gabi

  3. Liebe Anna!
    Seit einem Jahr lese ich deinen Blog regelmäßig und still mit.
    Heute möchte ich nicht still sein und sagen: Du hast es mit diesen Worten genau auf den Punkt gebracht! Ich hoffe, viele werden diesen Text lesen und mit noch mehr Menschen darüber sprechen! Vielleicht regt es manchen zum Nachdenken an!
    Alles Liebe!
    Anja

    • Liebe Anja, ich danke dir für deinen Kommentar. Wie schön, dass du das ähnlich emfpindest. Und dass du meine Leserin bist! Lieben Gruß an dich, Anna

    • Ich hoffe, dass es nachdenklich macht. Heute morgen war ich ganz froh, zu sehen, dass es offenbar viele gestern so ging wie uns. Die liebevoll gepackten Päckchen mit selbst gebackenen Keksen, Stollen und Kuchen sammelten sich stetig in der Eingangshalle der Schule und die Schulleitung wird ein großes Auto brauchen, um alles ins Krankenhaus zu bringen. Wir hoffen, dass wir im Januar mehr werden tun können.

  4. Hallo Anna,

    das war gestern auch bei uns Thema, denn auch in unserer Nähe sind Flüchtlinge untergebracht und ich habe vor kurzem erfahren, dass auch Schwangere und Babys dort sind. Also habe ich gerade meine Umstandskleidung zusammengepackt und suche noch Kindersachen raus – wir haben mehr als genug. Als meine beiden “Großen” das gestern mitbekommen haben, da sind sie sofort in ihre Zimmer gerannt und haben Spielzeug rausgesucht und ihnen fiel auch gleich ein, dass wir ja Schnuckzeug verschenken könnten. Ich war so gerührt davon – schade dass die Kinder dieser Pegida-A****l***** leider nie die Chance haben werden, auf diese Art nächstenlieb und empathisch zu sein.

    Liebe Grüße
    Daniela

  5. Vielen Dank, liebe Anna! Mir ist eben der Satz von einer Postkarte eingefallen, die ich als größeres Kind in meinem Zimmer hängen hatte und der immer noch aktuell ist: Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun, können das Gesicht der Welt verändern.
    Gerade momentan ist es mehr als nötig Zeichen zu setzen. Und wie schon angeklungen, auch unsere Kinder lernen auf diese Weise fürs Leben.
    Danke fürs Teilhaben lassen!

  6. So richtig beschrieben…ich glaube, Hilflosigkeit ist wirklich eines der am schwersten zu ertragen den Gefühle, weil wir es häufig gewohnt sind, dass alles machbar ist, wenn man nur genug will.
    Aber anderseits glaube ich auch genauso fest daran, dass auch und gerade diese kleinen Gesten etwas bewirken und helfen, weil sie zeigen “Ihr seid willkommen, Ihr seid nicht allein, wir fühlen mit euch”.
    Danke, dass du uns an deinen Gedanken teilhaben lässt.
    Einen schönen vierten Advent euch noch, LG Nina

  7. Liebe Anna,
    danke für deinen nachdenklichmachenden und mitreißenden Beitrag. JA, wir müssen weg von diesem pegidamist und wir müssen Zeichen setzen. Es gibt vom Pfefferwerk eine Initiative: Es werden Unterschriften gesammelt, um den Menschen zu zeigen, dass sie Willkommen und nicht allein sind. Ich würde mich freuen, wenn du in deinem Blog auf dem Laufenden hälst, gerne möchten wir im Januar helfen, so lange, bis die Menschen sich auch endlich Willkommen fühlen und mehr als nur ihr blankes Leben haben.
    Liebe Grüße und frohe Weihnacht!!

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