Der Tag mit dir geht zu Ende. Wir machen die Dinge, die wir immer tun: Abendbrot vorbereiten, duschen und den Schlafanzug anziehen, dann den Schulranzen packen. Wir reden, deine Schwestern albern mit dir herum, aber du bist ein bisschen ruhiger als die beiden und spätestens wenn es ans Zähneputzen geht, sehe ich es wieder ganz deutlich: du möchtest nicht schlafen gehen.

Es ist dunkel, die Nacht kommt. Wenn es dunkel wird, rückst du näher an mich heran. Du wirst leiser. Du wirst kleiner. Du rollst dich in meinem Arm zusammen, du brauchst die Nähe und Sicherheit meiner Umarmung. Seit wann ist das so?

Manchmal macht die Dunkelheit dir immer noch Angst. Oder wieder? Es kommt mir so vor, als würden die Phasen, in denen du selbstsicher durch deine Welt gehst, kommen und wieder vergehen und wieder kommen und wieder vergehen. Dein Wachsen und Werden verläuft nicht linear, es verläuft in Wellen. Und jetzt gerade möchtest du dich umdrehen und weglaufen, zurück zu mir, zurück zur Basis.

Das Einschlafen fällt dir schwer. Das ist untypisch und zeigt mir, dass du gerade durch eine störanfällige Phase gehst. Denn eigentlich bist du ein Schlafkünstler. Früher, als du ganz klein warst, habe ich mich kaum getraut, anderen Menschen zu erzählen, wie gut und wie verlässlich du schliefst, weil es so ungewöhnlich war. Das war ich von deiner großen Schwester nicht gewöhnt. Aber es war so, und es lag nicht so sehr an mir, dass du gerne und viel geschlafen hast, sondern an dir. Für dich war Schlaf immer etwas Schönes und du hast deine ganze frühe Kindheit hindurch immer verlässlich selbst gewusst, wann du müde warst, dich hingelegt und geschlafen. Als einziges von meinen Kindern konnte ich dich schlafend aus dem Auto ins Bett tragen, du schienst in deinem tiefen Schlaf durch nichts zu stören zu sein. Doch jetzt scheint es, als hätte deine Schlafkunst dich verlassen.

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Du liegst in deinem Bett, aber du schläfst nicht ein. Du wälzt dich, du stehst wieder auf: “Mama, ich habe Alpgedanken!” In deinem kleinen Kopf geht so viel vor, das meiste davon kannst du gar nicht in Worte fassen und viel verstehst du selbst gerade gar nicht. Du kannst mir nicht sagen, warum du nicht schlafen kannst, aber es macht dich unglücklich. Doch ich sehe dich, mein Herz. Ich sehe, wieviel dich bewegt und ahne nur, was das mit dir macht. Denn du bist so groß geworden gerade und es scheint mitunter, als wärst du Lichtjahre entfernt von dem drolligen herumkollernden Bub, der bis vor ganz kurzem mit seiner kleinen Schwester den ganzen Tag nur Unsinn ausgeheckt hat. Ich sehe den lustigen Bub natürlich, er ist noch da. Aber er ist nur eine Facette deines neuen, komplexeren Ich. Da ist jetzt ein ernsthafter Junge an der Seite des kleinen Kerlchens von vor kurzem. Da ist ein Junge, der sich Gedanken um die Welt macht, kluge Gedanken, die ihm ab und zu zu groß vorkommen und die ihm auch Angst machen. Der kleine lustige Bub konnte sich jederzeit schlafen legen, der große ernste Junge kommt nicht zur Ruhe und kann seine Gedanken nicht zur Ruhe bringen – seine Alpgedanken.

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Wenn es dunkel wird, wendest du dich an mich, an deinen Papa, an uns. Zum ersten Mal in deinem Kinderleben durchläufst du eine Phase, in der du uns zum Einschlafen brauchst. Du möchtest nicht alleine im Dunkeln liegen, selbst Licht im Zimmer hilft dir nicht und auch die Tatsache, dass du mit deiner kleinen Schwester in einem Zimmer schläfst, macht es dir zur Zeit nicht leichter. Dabei hat sie sehr viel Verständnis für dich und bietet an, wach zu bleiben, damit du beruhigt einschlafen kannst. Aber der große Junge mit den vielen Fragen im Kopf, die er nicht mal in Worte fassen kann, braucht gerade seine Eltern an seiner Seite und die Gewissheit, dass sie ihn nicht verlassen.

Das ist kompliziert, denn natürlich verlassen wir dich. Nicht wirklich, nicht nachhaltig, aber wir trennen uns jeden Tag für viele Stunden, wenn du zur Schule gehst und wir beide arbeiten. Jeder ist in seinem ganz eigenen Universum, bevor wir ab nachmittags nach und nach alle wieder zusammen kommen in der Basis unseres Zuhauses. Aber im Moment fällt dir das schwer und du möchtest nicht hinaus in die Welt, die du sonst so liebst und du möchtest dich nicht trennen von uns, obwohl du uns so oft nervig findest und deine Ruhe haben willst. Sogar deine Schwestern fehlen dir, wenn sie nicht da sind und du schreibst der großen sehnsuchtsvolle Nachrichten auf dem Handy hinterher, wenn sie am Wochenende bei ihrer Freundin übernachtet und rufst sie an, um gute Nacht zu sagen und mit kleiner besorgter Stimme zu fragen: “Wann kommst du wieder? Warum schläfst du nicht zu Hause?”

Wenn es dunkel wird, ist dir die Welt gerade zu groß, du selbst bist dir zu groß und es gibt nur eine sichere Variante: wir müssen alle hier sein, am besten ganz dicht bei dir. Unser flexibles Familienbett ist das, was dich jetzt am ruhigsten macht. Ich kann mich nicht erinnern, dass du je so sehr bei uns hast schlafen wollen, wie jetzt. Früher waren es immer nur die Mädchen, die ständig zu uns kamen, jetzt plötzlich – du.

Wenn es dunkel wird, kommen die Alpgedanken. Die Ängste. Jetzt, wo du mehr weißt über diese Welt, wo du nicht mehr ganz so unbeschwert bist, wie vor kurzem noch, kannst du dir auch mehr vorstellen. Im Umfeld siehst du Eltern sich trennen und fragst ängstlich: “Trennt ihr euch auch vielleicht?” Wir beruhigen dich, nein, bei uns ist alles in Ordnung, das siehst du doch. Und tagsüber hilft dir diese Antwort, aber nicht des Nachts. Aber dich quälten auch die Fragen über Leben und Tod, über die Vergänglichkeit. Die Frage nach dem Krieg in Syrien und warum es so etwas überhaupt gibt. Die ganz großen Fragen sind es, auf die auch wir keine zufrieden stellenden Antworten haben. Die Alpgedanken zeigen dir aber auch die Schreckgestalten aus den Büchern, die du liest, genauso wie die Fantasien darüber, dass deinen Liebsten etwas passieren könnte, dass irgend etwas dazu führen könnte, dass unsere Fünfer-Einheit Sprünge bekommt oder sich auflöst, dass sich die Ordnung deiner Welt verschiebt. Das alles hält dich vom Schlafen ab.

Ich kann dir die Ängste nicht nachhaltig nehmen. Du bist zu schlau und zu groß, um mir einfach zu glauben, wenn ich sage: “Alles ist ok. Es passiert nichts Schlimmes.” Denn versprechen kann ich es dir nicht. Und das weißt du jetzt. Aber ich kann bei dir sein. Ich kann deine Ängste sehen und ernst nehmen und ich kann an deiner Seite bleiben und die Alpgedanken zuverlässig vertreiben, damit du zur Ruhe kommst und einschlafen kannst. Ich kann dafür sorgen, dass du ruhig und klein werden kannst und dass der lustige Bub in dir sich beruhigt an meiner Seite schlafen legen kann, damit der große Junge am nächsten Morgen ausgeruht und einigermaßen sicher in den Tag gehen kann.

Hab keine Angst, mein Herz. Hier ist dein sicherer Ort, auch wenn es dunkel wird. Hier brennt immer ein Licht für dich.

In Liebe, deine Mama

Last Updated on 30. August 2019 by Anna Luz de León

5 Kommentare

  1. Mal wieder unsagbar schön geschrieben. Da sieht man mal, wie sehr diese schnelle und oft chaotische Welt unsere Kleinen auch schon überfordert. Schade, dass ihre Gedanken nicht gänzlich unbeschwert sein können. Ich finde es aber toll, dass Kinder auch so sensibel sind und eben Empathie empfinden und Gefühle zulassen – auch wenn sie sie vielleicht noch gar nicht so recht einordnen können. Es zeigt doch einfach nur, dass in dieser Familie gewissen Werte gelebt werden und einem der andere NIE egal ist. Mein Großer wurde dies Jahr eingeschult und auch er ist ein kleines "Sensibelchen" (und an anderen Tagen wieder der große Weltentdecker)…so ganz anders, als seine kleine quirlige Räuberschwester. Aber ich glaube, das kommt halt auch mit den Erfahrungen, die sie im Leben schon gemacht haben (auch mein Sohn hat den Tod eines lieben Menschen nahezu bis zur letzten Minute sehr extram miterlebt). Und auch wenn wir viel drüber reden und sehr offen mit dem Tod sowie mit dem Leben beim lieben Gott umgehen, gibt es doch immer wieder Phasen, in denen seine Verlustangst (uns zu verlieren) sehr stark wird. Daher finde ich es traumhaft schön, dass Du so einen Brief schreibst und ihm zeigst, dass ihr stets für ihn da seid – bedingungslos. Ganz liebe Grüße an Deine wunderbaren Kids. Genießt diese Zeit (auch wenn sie vielleicht manchmal anstrengend ist, weil man noch so viel zu tun hätte)…in Mama's Armen einzuschlafen ist das schönste, was es gibt. Und das wird es auch sein, woran sie sich später immer wieder erinnern werden.

  2. So schön geschrieben, liebe Anna. Weil ich mich/uns in Deinen Zeilen so wiederfinden kann. Das tut sehr gut. Mein Löwenjunge ist ja 7 Jahre alt und er muss ganz selten alleine einschlafen. (Wenn es nicht anders geht). Er schläft viel ruhiger und schneller mit uns ein. Einmal hat er gesagt "ich habe so viele Gedanken in meinem Kopf, aber ich finde den Knopf nicht zum ausschalten. Wenn Du da bist, dann werde ich viel ruhiger!" Und auch ich komme zur Ruhe neben ihm. Die schönsten Gespräche und Gedanken gibt es kurz vor dem Einschlafen. Egal wie stressig und schlimm der Tag war. Zum Ende sind wir uns nochmal ganz tief verbunden. 

    Liebste Grüße 

    tanja

  3. Pingback: Krümels Rundblick (4) - Krümel & Chaos

  4. Was für ein schöner, liebevoller Brief! Mein Sohn hatte auch eine Phase mit vielen “Alpgedanken”, in der er schlecht in den Schlaf finden konnte und auch nachts immer wieder aufgewacht ist. Er hat aber bisher auch fast nie alleine geschlafen, uns stört es aber auch nicht, wir brauchen alle diese Nähe beim Schlafen.
    Liebe Grüße
    Natalie

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