Manchmal gibt es Erinnerungen, die unwillkürlich in uns aufsteigen, wie Luftblasen im Wasser. Andere sind so tief in uns verborgen, dass wir sie kaum je wiedersehen. Und eine weitere Art von Erinnerungen hüten wir wie einen Schatz, den wir niemals jemandem zeigen, aus Angst, ihn ganz zu verlieren. Hier auf dem Darss sind viele Erinnerungen für mich ganz nah. Schmerzlich nah. Und manche handeln vom… Glück.

Ich dachte, ich fühle es nur allein. Ich dachte, vielleicht waren die Kinder noch zu klein und können sich nicht erinnern. Ich vergaß für einen Moment, dass ihr Sensorium unendlich viel feiner ist, als das der meisten Erwachsenen. Aber dieser Irrtum dauerte nur einen Augenblick, denn sie sind voll dabei. Wie immer. Und sie kriegen alles mit.

In dem Augenblick, als wir die Tür aufschließen und das Haus betreten, sind die Bilder da. Erinnerungen an helle Tage, Momente kostbar wie Edelsteine, die ich tief in mir aufgehoben habe und die jetzt aufleuchten in all ihrer Klarheit.

Wir waren natürlich seitdem schon hier. Wir waren sogar oft wieder hier, aber genauso, wie ich das traurige Haus aus dem Sterbejahr meiner Mutter gemieden habe in den letzten Jahren, habe ich das Haus der glücklichen Erinnerungen gemieden, in dem wir zuletzt 2009 gemeinsam Urlaub machten.

Aber jetzt sind sie da, all die schönen Erinnerungen. Wir sind zurück. Und ich bin damit nicht allein.

Wir waren gerade zu fünft, das Goldkind war erst kleine vier Monate alt, als wir für drei Wochen hier einzogen. Gleich nebenan waren zur gleichen Zeit meine Schwiegereltern und die Schwagerfamilie zu Gast. Und dann kam der Tag in unserer zweiten Urlaubswoche, an dem ein Taxi vorfuhr und das Herzensmädchen jubelnd aus dem Haus stürzte, denn da reiste meine Mutter an, um Zeit mit uns zu verbringen. Sie hatte seit einigen Wochen ihren aktuellen Chemozyklus hinter sich und hatte sich so weit berappelt, dass sie reisen konnte. Nicht sehr weit, das nicht, aber immerhin bis zu uns auf den Darss.

Und da waren wir. Die Großfamilie, versammelt unter einem hohen Sommerhimmel, für eine kleine Zeit des puren Glücks. Wir hatten Strandtage, wir hatten Regentage. Wir spazierten durch den Darsser Urwald und radelten zum Weststrand, wo wir Picknicks auf mitgebrachten Decken abhielten. Im Fahrradanhänger saß ein winziger Lieblingsbub mit kleiner Brille auf der Nase, neben ihm in der Babyschale die schlafende Babyschwester, während das Herzensmädchen laut singend neben uns durch den Wald radelte. Wir spielten Spiele mit Neffe und Nichtchen, wir kochten mit den Schwiegereltern und aßen in großer Runde gemeinsam draußen. Manche Tage waren faul und dehnten sich in den Abend aus, andere waren gefüllt mit Unternehmungen. Das Herzensmädchen ging schon damals jeden Tag zum Reiten und der Lieblingsbub absolvierte erste Runden auf seinem Johnny, dem lieben Haflingermischling, dem er noch heute sehr zugetan ist. Und ich trug das zufriedene kleine Babymädchen umher und nahm es überallhin mit, wo es aus großen blauen Augen zuschaute, was alle so taten.

In diesem Haus war es. Hier fand all das statt. Im Haus der glücklichen Erinnerungen.

Hier lag ich im Ferienbett und stillte mein Baby, das dann zufrieden in meinen Armen schlief. Ich kochte Tee und saß mit meiner Mutter im Garten zum Reden, während die Kinder ums Haus tosten. Wir sprachen von Geschichten aus meiner Kindheit und Urlauben an anderen Orten, während wir im Strandkorb saßen, und meine Mutter suchte dicke Bücher aus und las dem Herzensmädchen und dem Neffen stundenlang daraus vor, während sie in Handtücher gewickelt am Meer saßen und sich nach dem Baden aufwärmten. Abends machten wir Nudeln für die Kinder und brachten sie in ihre Betten, wir sangen ihnen Lieder vor und wenn sie eingeschlafen waren, saßen wir noch lange draußen und waren… einfach da.

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In den Momenten, in denen wir so glücklich waren, wussten wir es nicht. Wir waren es einfach.Wir waren zusammen, einfach so. Wir hatten gemeinsame Zeit, einfach so. Wir waren mitten im Zentrum von unendlichem und ganz simplen Glück. Und wir wussten es nicht.

Jetzt sind wir wieder hier, im Haus der glücklichen Erinnerungen. Und kaum sind wir zur Tür hineingegangen, schaut das Herzensmädchen mich an und sagt: „Ich möchte in dem kleinen Zimmer mit den zwei Einzelbetten schlafen. In Omas Bett.“ Und ich sehe in ihren Augen, dass sie sich an all das vergangene Glück erinnert, genau wie ich.

Dass sie an die Tage und Wochen mit meiner Mutter hier denkt und dass sie all das noch weiß: die vorgelesenen Geschichten, die Nudeln mit Butter und die Schlaflieder, die dicken Handtücher, in die sie gewickelt wurde, die Flechtfrisuren am Strand und die ausgelassenen Spiele mit ihrem Cousin. Sie stellt ihre Tasche auf das Bett und öffnet das Fenster und ich weiß, sie trägt in sich dieselben Erinnerungen an das kleine große Glück, das wir hier gemeinsam schon mal erlebt haben.

Ich frage mich für einen Moment, ob  das etwas Gutes ist. Ob es nicht zu schmerzlich ist, wenn in so einem jungen Kind schon so viel Vergangenes lebt. Ist das gelebte Glück etwas, nach dem sie sich für immer sehnen wird oder etwas, das sie dazu befähigt, dieses einfache, echte Glück wieder zu erkennen, wenn es ihr begegnet?

Heute hat es den ganzen Tag geregnet. Wir haben zusammengesessen und gespielt. Erst Kniffel, dann Stadt-Land-Fluss mit selbstausgedachten Kategorien, dann Mensch-ärgere-dich-nicht. Wir haben viel zu viele Toffifee gegessen und literweise Tee getrunken und wir haben sehr viel über sehr alberne Dinge gelacht. Und während dieses Regentages dachte ich auf einmal: da ist es wieder. Wir sind im Haus der glücklichen Erinnerungen und das Glück findet uns wieder.

Und vielleicht war es niemals weg. Vielleicht ist all das, was wir erlebt und verloren haben, vielleicht sind die Augenblicke des puren Glücks, das vergangen und nicht wiederholbar ist, für immer Teil von uns.

Wir können niemals zurück in diese Zeit. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen und die Augenblicke nicht zurückholen, wir können meine Mutter nicht mehr fragen, ob sie noch weiß, was sie damals vorgelesen hat oder mit ihr darüber reden, wie schön wir es fanden, gemeinsam durch Ahrenshoop zu spazieren und Eis zu essen. Wir können sie nicht mehr umarmen, ihre Stimme nicht mehr hören, sie nicht wiedersehen. Wir können nicht – zurück.

Vermissen, Umgang mit Tod und Trauer

Aber all das Erlebte ist Teil von uns. All die glücklichen und gemeinsam verbrachten Augenblicke gehören zu uns. Sie fügen sich zusammen zu dem, was wir heute unter Glück verstehen. Wir erkennen es, wenn es sich uns wieder zeigt und wir begreifen, wenn es uns erneut geschenkt wird. Ich weiß das und an diesem Regentag beginne ich zu verstehen, dass auch meine Kinder es bereits wissen.

Das Haus der glücklichen Erinnerungen ist in Wirklichkeit kein Gebäude, das fest und unbeweglich an einem Ort steht. Es ist ein Bild für das Glück, das wir bereits erfahren durften in unserem Leben und ein Haus, in das wir immer zurückkehren können. Wir nehmen es mit, wohin wir auch gehen und es bleibt in uns wie ein sicherer Ort, der uns immer offen steht.

Wir müssen nur hineingehen und unsere Taschen abstellen.

5 Kommentare

  1. Vielen Dank für diesen wunderbaren Text. Ich habe gerade mit meinen Kindern ein paar Tage bei meiner Mutter verbracht (viel zu selten) und habe auch dort die Möglichkeit gehabt, meine Oma (stolze 89 Jahre alt) mit den Kindern zu besuchen. Familie wärmt einen das Herz. Immer. Und gerne denke ich an frühere Familienurlaube zurück, ob an der Ostsee, Nordsee, im Harz oder Griechenland und der Türkei. Das sind gelebte Momente, die gerne in Endlosschleife sich wiederholen dürfen.

  2. Du hast das sehr wunderschön zusammengefasst. Und ich glaube, zum Glück gehört eben immer auch die Vergänglichkeit, damit dann wieder neues Glück nachkommen kann.

    Ich mag das Bild vom Haus, was wir in uns tragen. Danke dafür, und euch noch einen schönen Urlaub!

  3. …mal wieder so ein schöner EMOTIONALER Text. Danke dafür. Es ist wirklich faszinierend, was Erinnerungen mit uns machen und was sie bei jedem Einzelnen von uns auslösen. Momente, die wir wohl immer in uns tragen werden – jeder auf seine ganz eigene Art und Weise.

    Auch ich glaube, dass es nichts Negatives ist, wenn auch die Kinder diese Erinnerungen spüren. Denn sie können – im Gegensatz zu uns – dennoch viel unbeschwerter ihr Leben leben. Im Gegenteil, ich denke sogar, dass Kinder, die solche (leider auch schmerzhaften) Erfahrungen gemacht haben, viele Dinge viel bewusster wahrnehmen. Sie erkennen das Glück eben nicht nur, sondern LEBEN es auch. Das sollten wir auch. Leider merken wir so oft erst im Nachhinein, wie wertvoll gewisse Momente (mit unseren Lieben) sind, weil wir schon das tägliche gemeinsame Abendessen oft als selbstverständlich hinnehmen. Aber nein, das ist es eben nicht: Es ist ein Geschenk…ein ganz besonderes sogar.

    Durch die Erfahrung, die Deine Familie beim Weggang von Deiner geliebten Mama gemacht hat, werdet ihr immer sehr stark miteinander verbunden sein. Es hört sich total absurd an, aber als meine Mum vor zwei Jahren starb, war ich verdammt traurig (und das bin ich auch heute tief in mir drin noch). Jetzt glaube ich manchmal schon, dass es einfach die Geschichte zu unserem Leben war. Erst am Ende unserer Reise werden wir wohl erkennen/verstehen, warum unser Leben genau so war, wie es eben ablief. Und eben auch diese Erfahrungen (die Überschüttung mit Liebe unserer Mütter, das Glück Familie zu leben, die Trauer nach einem Todesfall) haben uns so stark geprägt, dass sie uns eben zu den Menschen machte, die wir heute sind. Aber erst am Ende werden wir den Sinn unserer Geschichte erkennen…und hoffentlich dankbar dafür sein.

    Euch einen tollen restlichen Urlaub. Saugt alle Eindrücke in Euch auf, genießt die gemeinsame Zeit, findet Zeit in Erinnerungen zu schwelgen, unterhaltet Euch darüber, lacht, träumt, seid glücklich…

  4. Pingback: Goodbye and hello | 6 Freitagslieblinge am 27. Juli 2018 | berlinmittemom

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