Es ist Weihnachten und wie jedes Jahr stelle ich bereits spätestens bei Einsetzen der Adventszeit fest, wie sehr ich diese Zeit im Jahr liebe, obschon ich das Wetter und das ewige Dunkel draußen verabscheue. Aber die Heimlichkeiten zur Adventszeit, die Vorfreude auf den Christbaumschmuck, die Lichter, die wir anzünden, wie ich das Haus nach und nach festlich schmücke – das erfreut mein Herz. Ich habe Adventstraditionen und -rituale, von denen ich eigentlich niemals abweiche (außer in diesem Jahr ein bisschen, erstmalig!) und auf die ich mich jedes Jahr wieder freue, sei es das Plätzchenbacken mit und ohne Kinder, der große Adventskranz, an denen ich die Säckchen für die Kinder aufhänge oder das Vorbereiten des Weihnachtsessen, das ebenfalls jedes Jahr das gleiche ist. Ich nenne das immer mein „Weihnachtsmojo“ und ich mag das an mir sehr.

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Aber seit meine Mutter tot ist, hat vieles davon einen schmerzlichen Anflug, denn sie ist es, die das in mich gepflanzt hat. Sie hat mein Weihnachtsmojo in mir angelegt, als ich das Kind und sie die Mama war, die all diese Dinge für mich und mit mir tat: das Backen der Lieblingsweihnachtsplätzchen, das Singen und Musizieren von Weihnachtsliedern, die Kerzen, die wir überall angezündet haben, die gefüllten Nikolausstiefel und die gleichen Adventspäckchen in rot und grün an einem ebensolchen Adventskranz, wie ich ihn heutzutage für meine Familie aufhänge. Sie nannte sich selbst eine „Weihnachtsmaus“ und liebte es, all diese Dinge zu tun. Als ich ausgezogen war und Weihnachten nach Hause kam, habe ich mich manchmal darüber lustig gemacht, wie sie Jahr für Jahr ihrer Weihnachtsdeko im Haus ein kleines Stück hinzugefügt hat und ihr im Scherz albernen Schnickschnack geschenkt, wie zum Beispiel eine Lichterkette für ihr Küchenfenster, an der über jedem Lichtchen ein Nikolauskopf leuchtete. Tatsächlich aber konnte man ihr zu ihrem Geburtstag am 15. Dezember immer mit einer neuen kleinen Kostbarkeit für ihren Tannenbaum eine Freude machen und ich glaube, ich habe in meinem Erwachsenenleben ihrer Sammlung jedes Jahr ein Stückchen Christbaumschmuck hinzugefügt und mich über ihre Freude daran selbst gefreut.

Abschied im Sommer

Dann starb sie. Ich erinnere mich an den Sommer 2011 auf der Palliativstation, als sei es gestern gewesen und an alles, was sie in diesen Tagen sagte. Wir sprachen nicht so viel über unser Leben als Familie, sie war vielmehr aufs Loslassen ausgerichtet und nicht darauf, sich an die Dinge zu erinnern, die sie nun würde zurücklassen müssen. Aber sie sprach über die Dinge, die sie liebte und die sie gerne noch einmal getan oder noch einmal wiedergesehen hätte: ihr Garten. Den Wald. Das Meer. Und eben Weihnachten. Ich nehme an, sie war eigentlich fest entschlossen, erstens den 70. Geburtstag ihres besten Freundes noch zu erleben, der im Oktober desselben Jahres anstand und dem sie eine Rede schreiben wollte, eloquent und unterhaltsam, wie ihre Reden und Briefe immer waren. Und zweitens: noch einmal Weihnachten zu erleben. Beides war ihr nicht vergönnt und irgendwann in diesen Sommertagen auf der Palliativstation hoch über dem Rhein, wurde ihr das klar und sie trauerte. Darum, das nicht mehr erleben zu dürfen. Um die Reden, die sie nicht mehr schreiben würde. Den Wald, in dem sie nicht mehr spazieren gehen würde. Das Meer und den Garten, die sie nicht wiedersehen würde. Und um Weihnachten.

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Nachdem sie gestorben war, rührten meine Geschwister und ich eine ganze Weile in ihrem Haus nichts an. Wir hatten da zwar unterschiedliche Impulse, was wann und wie zu tun wäre, aber tatsächlich gingen Wochen und Monate ins Land, bevor wir uns schweren Herzens daran machten, alle ihre Sachen zu sichten und zu sortieren. Viel gaben wir weg, viel verschenkten wir, eigentlich waren auch wir ganz aufs Loslassen ausgerichtet in dieser Phase: das Haus war nur noch ein Haus ohne sie, ihre Sachen waren nur noch Dinge ohne sie. Nur der Garten, der schmerzte uns, denn man sah ihm an, dass er sie ebenso vermisste, wie wir, so einsam und verlassen lag er da.

Irgendwann stießen wir auf dem Dachboden auf die Kisten mit dem Weihnachtsschmuck. Und schon saßen wir drei da, gingen durch ihre Lieblingsstücke und Kostbarkeiten, manche aus unserer frühen Kindheit, andere noch relativ neu und erzählten uns Geschichten von unserer Weihnachtsmaus, unserer Mama mit ihrer großen Weihnachtsliebe und lachten und weinten. Und fragten uns: was tun wir mit all den Weihnachtssachen? Denn es waren viel zu viele Dinge, um sie alle aufzuteilen.

Mehr als nur Christbaumschmuck

Wir überlegten gar nicht so lange, dann war klar, was passieren würde und wo der Ort war, an dem ihr Baumschmuck an einem Weihnachtsbaum glänzen sollte: die Palliativstation, wo sie die letzten Wochen ihres Lebens verbracht hatte. Dort war sie als elendes krankes Menschlein angekommen, aber als sie starb, hatte sie in der Zwischenzeit genau dort den Raum gefunden, bis zuletzt wieder ganz sie selbst zu sein. Dort war Platz für das kleine Mädchen, das ein Bild der Eltern am Bett aufstellen wollte und sich nach ihnen sehnte, Platz für die Mutter, die ihre Kinder verabschieden und deren Hände noch einmal ineinanderlegen wollte, Platz für die Professorin, die ihre wichtigsten Lieblingstexte auswendig aufsagte und in dicken Büchern las, solange es noch ging, Platz für die Freundin, die sich dort von den liebsten Weggefährt*innen ausführlich verabschieden konnte, Platz für das rheinisch-katholische Mädchen, das am Bett vom Vater Unser und geistlichen Liedern nahtlos zu Lieblingsliedern aus 67 Jahren Leben überging, Karnevalssongs inklusive. Und auch Platz für die Weihnachtsmaus, die mit den Schwestern dort unter anderem über ihre Weihnachtsliebe sprach und davon erzählte, was diese Zeit im Jahr ihr immer bedeutet hat.

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Sie hat in der kurzen Zeit dort nicht nur liebevolle Pflege und Fürsorge erhalten, nein, sie hat in der Begegnung mit all den wundervollen Menschen, die dort arbeiten, noch einmal erleben dürfen, wie es ist, trotz ihrer Krankheit und mit dem Blick auf die finale Phase ihres Lebens, als ganzer Mensch gesehen und behandelt zu werden. Mit Respekt. In Würde. Mit Tränen, Wut und Schmerz, aber auch mit Humor, voller Lachen, Leben und Liebe. Niemand hatte dort Angst vor dem Tod, denn der Tod geht dort Hand in Hand mit dem Leben, als Bruder und Schwester, so wie unser kleines Menschenleben nun mal gemacht ist: mit Anfang und Ende. Niemand wiegelte ab, wenn sie Ängste äußerte, niemand drückte aus, dass irgend etwas unpassend sein könnte. Es gab keine Tabus, keine Grenzen zwischen uns. Es war wie ein warmer Raum voller Licht, in dem wir alle eine kurze Zeit lang sein und die letzte bewusste Zeit mit ihr erleben durften.

So seltsam es sich anhört, aber dieser Ort war das Beste, was uns allen hätte passieren können. Er ist es immer noch. Und weil wir wussten, dort versteht man die Weihnachtsliebe unserer Weihnachtsmaus, dort kennen alle diese Geschichten, weil wir wussten, es gibt dort keinen Weihnachtsbaum und noch keinen Schmuck, der daran gehängt werden könnte, waren wir uns sofort sicher: dort gehört der Christbaumschmuck hin. Es war beschlossen.

Loslassen, zur Ruhe kommen, Frieden finden

Wir suchten also die Stücke aus, die wir selbst gerne behalten wollten, riefen auf der Palliativstation an und besprachen alles und dann – war Weihnachten.

Ein Baum wurde besorgt und aufgestellt und dann kamen wir, drei Kinder, drei Enkelkinder, drei Schwiegerkinder, drei Freundinnen, im Gepäck die Kartons mit dem Christbaumschmuck und eine Dose Plätzchen für die besten Menschen im ganzen Krankenhaus, die uns so viel geschenkt hatten in einer Zeit, in der wir so viel verloren haben. Und wir schmückten den Baum vor Ort, dort auf der Palliativstation und zündeten die Lichter an, wo unsere Mama wenige Monate zuvor gestorben war. Es war traurig und schön zugleich und es war so richtig, dass wir alle ganz glücklich waren dabei. Wir wussten, sie sieht uns und freut sich. Wir wussten, es gibt keinen besseren, richtigeren Ort für genau diesen Christbaumschmuck. Und wir wussten, es gibt dort jetzt viele andere Patienten und ihre Familien, denen es genauso ging, wie uns zuvor und die sich vielleicht über den Baum und den Schmuck freuen können, in einer Zeit, in der sie ansonsten wenig Freude erfahren würden.

Weihnachtsbaum mit Christbaumschmuck | berlinmittemom.com

Seitdem wohnt der Christbaumschmuck dort und wird immer noch jedes Jahr am Weihnachtsbaum aufgehängt. Und jedes Jahr, wenn mein Weihnachtsmojo anspringt und ich beim Schmücken meines eigenen Hauses zwischendurch weine und meine Mama so furchtbar vermisse und wünschte, sie wäre da und ich könnte mit ihr Plätzchen backen und Baumschmuck aufhängen, denke ich daran, dass dort, an diesem lichten Ort hoch über dem Rhein in meiner Heimatstadt der Christbaumschmuck meiner Mutter hängt und hoffentlich ein paar Herzen höher schlagen lässt.

Einen frohen dritten Advent wünsche ich euch, habt euch lieb und passt auf euch auf.

Last Updated on 14. Januar 2018 by Anna Luz de León

21 Comments

  1. Wundervoll erzählt und wundervolle Erinnerungen…
    GlG,
    Nancy

  2. Liebe Anna, ich bin zutiefst gerührt. Ein kleines Licht scheint immer irgendwo, und du hast die Gabe es zu sehen.
    Ich wünsche Dir und Deiner Familie gesegnete Weihnachten.
    Herzliche Grüße
    Silke

  3. Dein Verhältnis zu deiner Mutter muss sehr besonders gewesen sein, denke ich immer, wenn du über sie schreibst. Eine schöne Erinnerung an sie, der Baum auf der Palliativstation!

  4. Liebste Anna!
    Die Tränen laufen mir hier übers Gesicht. Das ist wirklich ein guter Ort für die wunderbaren Weihnachtsschätze!

    Ich drück dich feste,
    Renate

  5. Liebe Anna,

    Eine Geschichte die das Herz ganz tief berührt!! Wunderschön geschrieben!
    Fühl dich gedrückt!! ❤️
    Liebste Grüsse
    Swana

  6. Wahnsinn…so viel Mutter-Tochter-Enkel-Familien-LIEBE, dass man es in Worten kaum ausdrücken kann und doch spürt man die Tiefe bei jedem einzelnen Wort, das man liest. Bewahrt Euch das für immer! Das macht den Sinn der Weihnacht (wahrscheinlich sogar den Sinn des Lebens aus).

    Euch allen auch eine schöne (etwas andere) Adventszeit…ZUSAMMEN!

    LG Tini

  7. Wunderschön! Und ich bin ganz sicher: Auch sie ist da und freut sich über ihren Baum…

  8. Liebste Anna, Ihr seid eine so tolle Familie – ich muss weinen und doch auch Lächeln, wenn ich mir den Baum vorstelle. Möge der Schmuck Deiner Mama viele Menschen einen Glücksmoment schenken. Fühl dich umarmt, Deine Fee

  9. Liebe Anna,
    was für eine schöne Erzählung! Der einzige Grund, warum ich gerade nicht schluchzend heule ist, dass mein kleiner Sohn sonst sehr verwirrt und ebenfalls traurig würde!
    Viele liebe Grüße,
    Izabella

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