Manchmal gibt es keine Worte. Manchmal kann ich durch nichts ausdrücken, wie ich mich fühle oder was bestimmte Erlebnisse oder auch nur die Kenntnis von Ereignissen mit mir machen. Obwohl Worte meine Sprache sind, vielleicht mehr als alle anderen Ausdrucksmöglichkeiten, bin ich oft – wort-los. Und mein Blog hier ist der Ort, an dem alle anderen, die hier her kommen, um zu lesen, was ich zu sagen habe, miterleben und nachvollziehen können, wie mir die Worte fehlen.

Eben habe ich hier auf dem Sofa gesessen, ganz still, meinen drei Monate alten Neffen auf der Brust, der schlief und den meine Schwester mir kurz anvertraute, um sein Bettchen zu machen. Ich saß hier, vor dem Fenster die dunkle Nacht, in meinen Armen ein winziges, perfektes kleines Menschenkind und spürte, wie diese ungesagten, widerspenstigen Worte in meinem Schädel rumorten, in meinem Herzen hin und her gingen und wie ich wieder, wie schon so oft in den letzten Wochen, nicht wusste, was tun damit. Mein Neffenbaby seufzte im Schlaf, grub sein Köpfchen tiefer in die Kuhle unter meinem Schlüsselbein und griff mit seinen Miniaturhändchen nach dem Kragen meiner Bluse. Griff und hielt fest. Die Fäustchen so um meinen Kragen geballt schmatzte er kurz, machte einen kleinen zufriedenen Laut und schlief weiter. Einfach so. Geborgen in der bedingungslosen Liebe seiner Eltern, gewünschtestes Wunschkind dieser beiden, geboren in die emotionale, soziale und materielle Sicherheit seiner Familie, aufgefangen von den vielen Herzen, Händen und Armen der Großfamilie, beginnt er sein kleines Leben. Er ist willkommen, geliebt und behütet.

Und es ist klar, was ich gerne sagen will, es ist klar, was nicht herauskommt aus mir, aus dem Kopf und dem Herzen durch meine Finger und die Tastatur meines Laptops hierher, auf die Seiten dieses Blogs. Ich bin mir so bewusst, wie fragil dieses kleine Leben in meinen Händen ist, wie kostbar und einzigartig und ebenso bewusst ist mir, wie privilegiert dieses Kind ist, jetzt und in Zukunft, ebenso wie meine Kinder, die Kinder meines Bruders, die meines Schwagers und die Kinder aller meiner Freunde, Nachbarn und Kolleg*innen. Ja, nicht alle leben in derselben materiellen Sicherheit und nicht alle leben mit beiden Elternteilen zusammen, aber nichtsdestotrotz wachsen sie in Liebe, Respekt und Geborgenheit auf. Ihre Leben sind gut, ihre Leben sind heil.

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Was mache ich damit, angesichts der humanitären Grenzsituationen direkt vor meiner Haustür? Seit Wochen beschäftigt mich das, was wohl viele von uns in diesen Tagen nicht loslässt: das Drama um die Menschen auf der Flucht, die bei uns ankommen, mit nichts als ihrem Leben und der Hoffnung darauf, wieder Frieden zu finden. Aber ich habe keine Worte. Seit Wochen will ich darüber bloggen, will mehr tun, als nur Kleidung, Hygieneartikel und Geld zu spenden, will mehr tun, als Willkommenspostkarten nach Heidenau schicken oder Menschen zu vernetzen, die helfen wollen. Ich befülle die Schultüte meiner kleinsten Tochter und bereite die Einschulungsfeier vor, während mir durch den Kopf geht, dass die unbegleiteten Flüchtlingskinder hier in Berlin zum Teil nicht mal ein Dach über dem Kopf haben, geschweige denn an einen regelmäßigen Schulbesuch denken können. Ich gehe einkaufen und bereite Mahlzeiten für die angereiste Großfamilie vor und denke dabei daran, dass die Menschen auf der Flucht auf die Spenden von Mitmenschen angewiesen sind, um überhaupt etwas zu essen. Ich sortiere die Sommersachen allmählich aus, wasche und bügele die Ferienwäsche und kann den Gedanken daran nicht loswerden, dass die Menschen auf der Flucht nichts mehr haben als das, was sie am Leibe tragen. Ich klebe ein Pflaster auf die aufgeschlagenen Knie meiner Tochter und denke an die Menschen mit unbehandelten Kriegsverletzungen, die auf dem Gelände des Berliner LaGeSo tagelang warten, bis sie eine Notunterkunft zugewiesen bekommen. Ich sitze am Bett meines Sohnes, der nicht schlafen kann, streichle ihn und rede mit ihm und denke daran, dass andere Mütter ihre Kinder nie wieder in den Schlaf singen werden, weil jemand sie auf einem überfüllten Boot in einer dunklen Nacht auf dem Mittelmeer über Bord geworfen hat, wo sie ertrunken sind. Für all das und noch viel mehr habe ich keine Worte.

Oft bin ich diejenige, die andere motiviert, Dinge zu tun, über die sie sonst nur nachdenken. Ich bin oft diejenige, die gerade hier dazu aufruft, sich für Dinge oder Menschen einzusetzen und stark zu machen. Und ich bin oft diejenige, die gut formulieren kann, was sie für gut und richtig hält, um dann zumindest etwas davon umzusetzen. Aber jetzt nicht. Jetzt bin ich seit Wochen verstummt. Weil das, was mich bewegt, zu groß ist für die paar Worte, die mir zu Verfügung stehen.

Seit Wochen denke ich über einen guten Text nach, den ich hier veröffentlichen möchte und der aufrüttelnd und wichtig sein soll und einen Unterschied machen – aber die Worte kommen nicht. Deshalb schreibe ich jetzt einfach so, mit den paar armseligen Worten, die mir geblieben sind. Weil ich mich nicht raushalten kann, weil das einfach nicht geht. Ich kann nicht so tun, als wäre nichts und ich kann keinen großartigen Text schreiben, der über das hier hinaus gehen würde, so gern ich das auch täte.

Ich sitze hier, gelähmt und ein bisschen unter Schock und ich tue nichts weiter, als hier und dort Geld zu spenden für Hilfsorganisationen oder ganz konkrete Projekte vor Ort und Kleidung und Hygieneartikel dorthin zu spenden, wo sie gebraucht werden. Keine Worte, keine guten Texte, gar nichts. Ich unterstütze hinter den Kulissen die großartigen Initiator*innen von #bloggerfuerfluechtlinge und von Herzen die nimmermüden Admins (von denen ich sicher die am wenigsten Aktive bin) der entsprechenden Facebook-Gruppe Petra von Allerlei Themen, Märry von Kalinchens und Julia von Die gute Kinderstube mit Rat und Tat und nächtlichen Telefonaten. Aber ich kriege hier nichts zustande, kein Blabla und nichts Bedeutungsvolles.

Auf meiner Brust liegt mein Neffe und schläft und ist die personifizierte Unschuld – der perfekte kleine Mensch, ohne eine Ahnung vom Elend in dieser Welt. Ich möchte, dass es so bleibt, nicht nur für ihn. Ich möchte gerne, dass die Leben a l l e r Kinder heil und gut sein sollen, nicht nur die der Kinder, für die ich persönlich sorgen kann. Antworten auf die großen Fragen habe ich keine, gute Texte habe ich zur Zeit auch keine, aber eine Bitte:

Macht die Welt, in der wir gemeinsam leben, ein bisschen besser. Gebt, was ihr könnt, egal ob es 1 Euro ist oder aussortierte Kleidung, ein Paket Windeln oder eure Zeit. Vergesst die Worte, seid Menschen mit Menschen und teilt euer Glück und euer Lächeln mit denen, die heimatlos und vertrieben sind. Seid da, schaut nicht weg, sondern reicht denen, die traumatisiert und verzweifelt an unsere Tür klopfen, die Hand. Es gibt in fast allen Städten oder Landkreisen die Möglichkeit, konkret zu helfen, es gibt wunderbare Aktionen von engagierten Menschen mit Tatkraft und guten Ideen – unterstützt sie.

Meine Kollegin Tanya von Lucie Marshall hat mich in diesen Tagen tief beeindruckt. Mochte ich sie vorher schon, so bin ich jetzt ein großer Fan von ihr als Mensch. Und wenn ich auch den Mut und die Zeit nicht aufbringe, die sie investiert, in dem sie einfach macht, so kann ich sie doch unterstützen und in der zweiten Reihe stehen, wenn sie hilft, Menschen bei sich aufnimmt, Kleiderkammern aus dem Boden stampft und sich wo sie kann einsetzt für die Flüchtlinge in unserer direkten Nachbarschaft.

Manchmal sind Worte nicht so wichtig. Einfach machen. (Ausgeliehen. Danke, Paul.)

Passt auf euch auf.

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Menschen in Not brauchen Hilfe, keine Hasstiraden. #bloggerfuerfluechtlinge macht die Stimmen derer hörbar, die ihre Herzen und Arme öffnen für die Menschen auf der Flucht. Sie sollen lauter klingen, als die verzerrenden Botschaften der Hetzer und Hasser, weil sie von (Mit-)Menschlichkeit, Vernunft, Verantwortungsbewusstsein, Fürsorge und Liebe sprechen. Meine Stimme gehört #bloggerfuerfluechtlinge.

Last Updated on 29. März 2018 by Anna Luz de León

24 Kommentare

  1. Liebe Anna,
    außer Tränen habe ich zu deinem Text auch keine Worte.
    Danke! Du bist und bleibst die beste Motivatorin, die sich diese Welt (und ich) nur wünschen kann!
    Gruß
    P.

  2. Oh Anna…Danke für diese Worte!!! Sie SIND groß…weil sie ehrlich sind und von Herzen kommen! Bei mir weicht die Schockstarre gerade den Tränen…und wenn ich wieder sehen kann, bringe ich das Auto voll Kleidung, die ich heute früh bei den Kindergartenfamilien gesammelt habe, ins Erstaufnahmelager… Auch wenn ich das Gefühl “nicht genug” zu tun, auch damit nicht vertreiben werde…

  3. Liebe Anna, ich finde, das ist ein toller Text! Mir geht es auch so, da ist immer so ein beklommenes Gefühl, das mich lähmt und mir die Worte nimmt…

  4. HIn- und hergerissen zwischen diesen zwei Welten – so geht es mir auch. Sprachlos angesichts dessen, was da passiert und vom Ignorieren aber nicht besser wird. Also handeln wir. Jeder so wie er am besten kann. Danke für den schönen Text.

  5. Liebe Anna,
    Deine Worte mögen nicht groß sein. Ich denke, es gibt gar keine so großen Worte, wie sie im Angesicht dieser Schicksale nötig wären. Aber sie bewegen mich wie immer sehr. Sie bewegen, weil sie so tief aus der Seele sprechen – Deiner und meiner. Ich danke Dir dafür!!
    Ich bereite mich hier auf die Geburt meines Sohnes vor und sehe die Bilder des kleinen Jungen, der auf dem Bahnhof in Budapest geboren wurde. Und auch ich habe keine Worte mehr, Tränen ja und Demut.
    Liebe Grüße
    Julia

  6. Liebe Anna,
    gerade uns die wir selber Kinder haben sprichst du mit deinen ehrlichen Worten das aus wofür wir nicht die Worte finden…Vielen Dank dafür…Wir alle sind in der Tat aufgefordert Position zu beziehen, zu handeln so gut wie jeder Einzelne es eben vermag.
    Dennoch ist es wirklich auch wichtig, Worte für dieses unfassbare zu finden..Worte auch für unsere Kinder denen wir erklären müssen warum diese Grausamkeiten in unserer Zeit immer noch möglich sind…
    Wenn wir versuchen zu verstehen was “Mensch sein” eigentlich wirklich bedeutet…Dann versinken wir nicht in der Ohnmacht sondern können wieder ein kleines bisschen Mut, Hoffnung, Trost und Zuversicht geben und vielleicht erkennt ja auch der ein oder andere wie nichtig manchmal unsere eigenen Unzufriedenheiten sind.

  7. Danke für deine Worte. Ich kann auch nicht wirklich in Worte fassen, was mir zum Thema Flüchtlinge durch den Kopf geht. Fast jede Nacht träume ich von hässlichen Szenarien und kann doch nicht drüber schreiben.Liebe Grüße Isa

  8. Liebe Anna,
    mal wieder hast Du es wunderbar geschafft, trotz Deiner “Wortlosigkeit” die Dinge, die mir durch den Kopf gehen in Worte zu fassen.
    Ich habe Anfang des Jahres mit einem kleinen Mini-Blog angefangen, nur so für meine Freunde und die Familie und auch ich überlege seit Wochen, ob und wie ich über das Thema Flüchtlinge schreiben soll. Aber es geht mir genau wie Dir, ich drehe und wende innerlich Worte und Emotionen, kann sie nicht richtig ordnen. Also vielen Dank für Deinen Versuch :-) Vielleicht schafft man es nicht, das Große und Ganze in Worte zu fassen, zu verstehen, oder dort “oben” etwas zu ändern, aber genau wie Du, sind wir in unserer Familie zu dem Schluss gekommen, dass das kein Grund sein darf im Kleinen zu helfen.
    Grüße aus Köln

  9. Eigentlich möchte ich nur sagen: Punkt. Weil es mir genauso geht (und ich heute genau so einen Text geschrieben habe) und weil Du Recht hast.

    Liebe Grüße,
    Carolin

  10. Liebe Anna,
    Du hast so großartig ausformuliert, was ich fühle. Tiefe Demut und Dankbarkeit beim Anblick des eigenen Alltages. Und um so mehr Mitgefühl für die Flüchtlinge, die nichts (mehr) haben, Grauenvolles erlebten und Unvorstellbares fühlen müssen.
    Deine “Wortlosigkeit” sagt alles. So “gut” habe ich das in meinem Artikel nicht formuliert bekommen. Jeder Satz klingt banal, keines der Worte reicht aus.
    Erst heute musste ich darüber diskutieren, wieso “diese Flüchtlinge nicht da bleiben” und “all die Terroristen her kommen müssen”. Sowas macht so wahnsinnig sprachlos und wütend zugleich. Dass Menschen – stark gläubige Christen – sowas denken können ist mir unbegreiflich.

    Wie dem auch sei. Großartig geschrieben und absolut auf den Punkt gebracht.

  11. Am Wochenende war es sehr kalt und stürmisch. Alle Nase lang gab es heftigste Regenschauer. Und ich konnte nur daran denken, wie gut wir es haben, die hier leben und eine warme Wohnung haben. Anders als die Menschenmassen die gerade zu Fuss durch Europa laufen um endlich irgendwo anzukommen.

    Ich habe angefangen, Kinderkleidung und Mützen für Erwachsene zu häkeln. Was halt schnell geht und gebraucht wird. Mein erstes Päckchen ist bald voll aber so wie ich das mitkriege kann ich die Sachen auch bald hier vor Ort abgeben.

    Schöner Artikel, sehr gut geschrieben!

  12. Wunderbarer Text!
    Jeden Tag denke ich im Moment, wie gut mein Sohn und ich es haben… ja, ich bin alleinerziehend und wir leben zur Zeit von ALG II – und dennoch haben wir es so unverschämt gut!
    An die “unbegleiteten Flüchtlingskinder” habe ich noch nie gedacht. Jetzt wo Du das schreibst… sind da viele ohne Elternteil dabei? Das ist ja furchtbar!!
    Was passiert denn mit den Kleinen?

    • Danke dir. Bei den unbegleiteten Kindern handelt es sich oft um entweder Kinder, die ihre Eltern/Verwandten auf der Flucht verlieren oder um Teenager, die tatsächlich alleine unterwegs sind. Einmal hier angekommen und registriert, unterstehen sie der Obhut des Jugendamtes, aber auch diese Behörde ist zur Zeit wohl überfordert. Alleine hier in Berlin werden zur Zeit mehrere hundert Pflegefamilien für unbegleitete Flüchtlingskinder gesucht. Gleichzeitig kümmern sich Vereine wie Karuna. e.v. und andere um alternative Lösungen und schnelle Hilfe. Man kann nur hoffen, dass alle diese traumatisierten Kinder hier schnellstens einen sicheren Ort und eine neue Heimat finden.

  13. “Action speaks louder than words” geht mir seit Wochen im Kopf herum. Und ich versuche, zu machen. Weil mir die geschriebenen Worte auch langsam ausgehen. Und weil vermutlich keines davon bei den Geflüchteten ankommt. Mein Lächeln aber schon.

  14. Pingback: Flüchtlinge in Bonn - Willkommen - Bonn EntdeckenBonn Entdecken

  15. Liebe Anne,
    Vielen Dank für deine tollen Worte ,mit soviel Herz geschrieben.
    Mach weiter so ,und rüttel die die noch nicht wach geworden sind wach.
    Liebe Grüße Ilona

  16. Pingback: Hilfe für Flüchtende | Mit viel Gefühl

  17. Liebe Anna,

    danke für Deinen tollen Bericht, Du hast mir aus der Seele gesprochen. Es ist unglaublich was da momentan passiert. Man findet nicht die richtigen Worte, weiß nicht wie all das weiter geht und was man machen kann oder soll.

    Steffi

  18. Pingback: größter flohmarkt deutschlands ::: mama-buchpaket für #bloggerfuerfluechtlinge

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