Heute ist wieder so ein Morgen. Ich setze dich an der Schule ab und der Weg hinein ohne mich ist dir zu schwer. Du schaust mich an aus deinen blauen Augen und ich sehe, dass du mit den Tränen kämpfst und deine Stirn liegt in angestrengten Falten, weil du auf keinen Fall weinen willst. "Mama", sagst du und deine Stimme klingt ganz klein, "Mama, kannst du mich heute ausnahmsweise pünktlich an der Klassentür abholen nach der Schule?" Deine Geschwister stehen schon ein paar Meter vom Auto entfernt und warten auf dich, dein Bruder hat schon zwei Kumpels getroffen und lacht und redet, die Große winkt über die Straße einer Freundin zu, aber du hast jetzt keinen Blick dafür. Du kannst dich nicht trennen. Du streckst deine kleine schmale Hand durch das geöffnete Autofenster herein zu mir und greifst nach meiner Hand. Wir halten uns einen Moment ganz fest und du schaust mir in die Augen. "Ja, ich verspreche, ich bin ganz pünktlich da", sage ich und dein Gesicht entspannt sich ein bisschen. "Lass mich los, mein Schatz," sage ich dann, denn ich muss weiter und ich weiß, je länger der Moment dauert, umso schwerer wird es für dich. Schließlich lässt du los, winkst mir noch mal und greifst nach der Hand deiner großen Schwester. Die wundert sich, denn das machst du inzwischen sehr selten und ihr fragender Blick findet meinen: heute ist wieder so ein Morgen, beantworte ich wortlos ihre unausgesprochene Frage. Und sie nickt und zieht dich an sich und zusammen geht ihr los.

Ich fahre los und erledige all meine Dinge, die auf meinem Zettel stehen, aber immer wieder denke ich an dein kleines, besorgtes Gesicht und frage mich, was es ist, das dir den Start heute früh schwerer gemacht hat als sonst, frage mich, ob du mir das wirst erzählen können und ob du die Worte finden wirst, das auszudrücken, wenn ich dich abhole. Oder ob es einer dieser Momente ist, in denen du gar nicht sagen kannst, was genau dich gerade ängstlich und verzagt macht.

Du bist nicht mehr das kleine Kitakind mit der Trennungsangst oder der Angst vor der Hexe, die durch's Fenster hereinfliegen könnte, du bist eine Zweitklässlerin, selbstbewusst und selbständig. Dennoch trifft dich ein diffuses Gefühl von Unsicherheit oder Ängstlichkeit in deinem kleinen Alltag immer wieder. Und ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass alles gut ist. Ich wünschte, ich könnte mein Bild von dir auf dich übertragen, so dass du siehst, was ich sehe, wenn ich dich anschaue: ein Kind mit allen Möglichkeiten, so strahlend und voller Lebensfreude, ein Kind, das kluge Fragen stellt und die Antworten aufnimmt, mit deren Hilfe es sein Weltbild erweitert, ein warmherziges Kind, liebevoll und zugewandt, das andere sieht und sich um sie sorgt, ein mutiges Kind, das oft und gern an seine Grenzen geht und ausprobiert, wie weit es kommt mit seinen Erfahrungen und Fähigkeiten. All das und noch viel mehr sehe ich. All das bist du.

Dennoch sehe ich auch, wie vieles in deinem Alltag dich beschwert. Ein Streit mit einer Freundin, die dich vom Spiel auf dem Schulhof ausschließt. Ein Missverständnis mit deiner Lehrerin, von der du fürchtest, sie könne dich aufgrund dessen für jemanden halten, der bewusst die Unwahrheit sagt. Ein fremder Erwachsener, der euch im Vorbeigehen anschnauzt, weil ihr ihm im Weg seid und vor dessen Missmut du dich fürchtest. Eine Eskalation zu Hause mit deinem geliebten Bruder, der dich anmeckert und von dem du dich ungerecht behandelt fühlst. Ein Zusammenstoß mit mir, die du fürchtest, enttäuscht zu haben, weil du irgend etwas nicht so gemacht hast, wie ich dich gebeten hatte.

Wochenende in Bilder, Porträt, Mutter und Tochter, Mutterliebe

Und ich weiß, dass ich dir all das nicht abnehmen kann. Ich weiß, dass du vieles alleine bewältigen musst, weil ich nicht immer an deiner Seite sein kann. Ich weiß auch, dass du das schaffst, dass du das kannst, dass die Geborgenheit und Liebe deines sicheren Zuhauses dich weit trägt und dich stärkt. Ich weiß, dass du noch vielen Hürden und Herausforderungen in deinem Leben begegnen wirst und dass du noch oft straucheln und ängstlich zurückschrecken wirst, weil dir diese Dinge das Herz schwer machen werden. Ich weiß, dass es nicht meine Aufgabe ist, dir all das abzunehmen oder dich davor zu bewahren, nicht nur, weil das gar nicht möglich ist, sondern weil all das zum Großwerden dazu gehört. Es gehört dazu, sich zu überwinden und sich manches Mal einer herausfordernden Situation zu stellen. Es gehört auch dazu, sich mit den eigenen Ängsten zu konfrontieren und sich damit zu befassen, ihnen ins Auge zu schauen, um sie benennen und bewältigen zu können. Ich weiß das alles.

Aber ich bin deine Mama. Mein Job ist es, bei dir zu sein, wenn schon nicht physisch in den schwierigen Situationen und seien sie auch noch so klein, so doch im Herzen. Meine Aufgabe ist es, dir so viel Liebe zu geben und immer für dich da zu sein, damit du dir zutrauen kannst, solche Herausforderungen anzunehmen. Meine Aufgabe als deine Mama ist es, deine sichere Basis zu sein, von der du weißt, dass sie unerschütterlich und verlässlich da ist, egal, was "da draußen" in der Welt passiert, egal, wie viel dein Alltag dir abverlangt – hier ist dein Nest, hier ist dein Team, hier ist deine Familie.

Deshalb, mein Herz, leg deine Hand in meine Hand. Auch wenn wir nicht vierundzwanzig Stunden am Tag zusammen sein können und ich dir die DInge nicht abnehmen kann, die dich herausfordern, meine Hand ist ausgestreckt für dich, die Arme sind weit offen und ich halte dich, wenn du es brauchst. Und wenn ich am Morgen deine Hand loslasse, weil du in deinen Tag gehst und ich in meinen, dann lasse ich nicht wirklich los. Zwischen uns ist etwas, das uns bindet und verbindet, stärker als alle Kraft, mit der wir uns festhalten könnten und stärker als alle Anfechtungen, die dir an einem langen Tag begegnen können. Ich lasse dich los, weil ich weiß, dass du diese Schritte ohne mich gehen kannst in dem sicheren Gefühl, dass meine Hand dich hält, dass meine Liebe dich trägt, dass mein Vertrauen in dich dein eigenes Selbstvertrauen beflügeln kann.

Leg deine Hand in meine, wenn du am Nachmittag wieder zu mir kommst und wir halten einander fest – aber nicht, weil wir Angst haben, uns loszulassen. Nicht, weil wir befürchten, dass wir sonst auseinanderdriften und einander nicht mehr spüren können. Sondern weil wir es wollen. Weil unsere ineinandergelegten Hände das Sinnbild sind für unsere Bindung zueinander. Eine, die stärker ist, als alles, sogar stärker als der Tod. Wir sind Mutter und Tochter, mein Herz. Wir werden immer verbunden sein. 

Und während du in der Schule bist, denke ich den ganzen Tag an dich und weiß, mein Vertrauen in dich begleitet dich wie ein Schutzzauber, der dich stärkt und dir in jeder Situation Kraft gibt. Und meine Liebe ist über dich gebreitet wie ein magischer Mantel, der dich behütet.

Leg deine Hand in meine Hand, mein Herz. Ich halte dich.

Deine Mama

24 Kommentare

  1. Dieser Text ist so wunderbar mitten aus dem Herzen geschrieben und ich möchte Dir Danke sagen, dass Du dieses Internet damit bereicherst… mit in Worte gekleidete Liebe <3

    Von Herzen
    Anja

     

  2. das ist so wundervoll und schön geschrieben, dass es ganz tief berührt!! danke, einfach wunderschön! deine kinder können nicht nur auf deine liebe die du jetzt gibts zugreiffen, sondern haben sie auch schriftlich ein leben lang. welch wunderbare liebesbriefe du ihnen damit schenkst! einfach toll❤️

  3. Anna, du schreibst so wunderbar! Ich habe selbst noch keine Kinder, aber allein von der Liebe zu lesen, die du zu deinen hast, ist so herzerwärmend!

    Herzlicher Gruß
    Steffi

  4. danke für diese wundervollen Worte, den liebevoll geschriebenen Text. Er hat mir heute morgen aus der Seele gesprochen, nachdem mein Herzenskind mal wieder mit schweren Schritten unwillig in den Kindergarten getappt ist … !!!

  5. Liebe Anna,

    dein Brief ist so wunderbar, in Worte gegossene Liebe! Mir kullern grad die Tränen, weil ich solche Situationen von meiner Tochter auch kenne. Ich hoffe, ich kann sie genauso mit meiner Liebe stärken, wie du es mit deiner Tochter tust.

     

    Liebe Grüße

    Katja

  6. Mal wieder ein so wunderschöner und tiefer Text von Dir, der mich zu Tränen rührt und mich in meinen Gedanken bestätigt. Auch mein kleiner Erstklässler kann sich morgens so oft nicht trennen oder kommt nachmittags nach Hause mit den Worten: "Mama, heute hatte ich total viel Sehnsucht nach Euch." Dieser Satz sagt so viel aus – genau wie das Verhalten Deiner Tochter. Sie spüren in ihrem doch noch so jungen Alter bereits, was ihr ihnen schon jetzt mit auf dem Weg gegeben habt an Liebe, Vertrauen, Geborgenheit, ZUHAUSE. Ich hoffe, dass dieses Gefühl in unseren Kindern nie erlischt und sie, auch wenn sie erwachsen sind, immer wissen, wo sie ungefragt hinkommen können und bedingungslos geliebt werden…in jeder Phase ihres Lebens. Danke nochmal für diesen Text zum Wochenende…ich habe das Glück und darf jetzt in den Feierabend starten. Heute Nachmittag gibt es einen großen Eisbecher für meine Lieblinge und wir werden wieder jede einzelne gemeinsame Minute am Wochenende miteinander genießen :)

  7. Liebe Anna, so wunder- wunderschön geschrieben – danke, dass du das mit uns teilst <3 

    …leise weinend ab…

    • Ihr sollt doch nicht alle weinen…! Küsst eure Kinder und denkt einen Moment daran, dass eure Bindung der Schutzzauber ist, der sie hält. <3

  8. Was für ein wunderschöner Text…Danke für jedes einzelne Wort. 

     

    Liebe Grüße aus dem Ruhrgebiet 

    Andreas

  9. Ehrlich gesagt, merke ich, dass ich mich vor dem Lesen Deiner Texte häufig vergewissere , ob ich nach dem Lesen direkt unter Leute muss, da ich weiss, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ich vor Rührung losheule wie eine Schlosshündin zeimlich gross ist :-) :-) Vielen Dank!! Ich finde Du bist eine grossartige Schreiberin und könntest sicher eine uns allen bekannte Papiertaschentuchfirma als Sponsor gewinnen…. :-)

  10. Vielleicht müssen wir alle weinen, weil wir alle den Schmerz in uns spüren, den all die erzwungenen Trennungen durch Kindergarten und Schule in uns hinterlassen haben, an Tagen wie diesen… und wir vielleicht nicht so tiefe Bindungen hatten, oder Eltern, die unsere Herzen in ihrer Hand halten konnten. Vielleicht haben wir gehört: jetzt hab dich nicht so, oder: hör auf dich so anzustellen… Vielleicht durften unsere Tränen damals nicht fließen, darum fließen sie jetzt, wenn wir von Liebe lesen. 

     

    • Ach, liebe Ines, was für schöne und kluge Worte von dir! So habe ich darüber noch nie nachgedacht, aber es ist sehr viel Wahres an dem, was du sagst. Vielleicht schreibe ich darüber mal…

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