Meine Kinder sind mein Ein und Alles. Sie sind meine erste Priorität, ob ich wache oder schlafe. Sie sind in meinem Herzen auf Platz Eins. Ihr Wohlergehen ist mein erster Gedanke, ihre körperliche und seelische Unversehrtheit meine Verantwortung, ihr behütetes Aufwachsen das, wofür ich arbeite, jeden Tag. Ihr Vater und ich tun alles dafür, dass sie gut groß werden und alle Chancen und Möglichkeiten haben. Wir sind ihre Eltern. Wir beschützen sie, wenn es sein muss, wir fordern sie heraus, wenn sie es brauchen, wir lassen sie los, wenn es Zeit ist, wir halten sie in unseren Armen, immer, wenn sie es möchten. Wir sind die Basis und das Nest. Wir bereiten den Boden, auf dem sie sicher stehen und gehen. Wir lieben sie bedingungslos, egal, was sie tun und genauso, wie sie sind.

So verstehen wir unser Elternsein. Und ich bin sicher, dieses Gefühl für unsere Kinder teilen wir mit allen Eltern auf dieser Welt. Aber nicht alle Familien haben dieselben Bedingungen. Nicht alle Eltern können diese Wünsche, Gefühle und Gedanken, ihr persönliches Verständnis von Elternsein, einfach so umsetzen. Nicht alle Kinder gehen so sicher in diese Welt, wie unsere. Nicht alle Familien leben in Sicherheit, mit Zugang zu Bildung, Krankenversicherung, allen notwendigen Ressourcen und der Gewissheit, dass sie zusammenbleiben werden. Nicht alle leben in Freiheit. Nicht alle leben ihre Werte so wie wir. Um die Wahrheit zu sagen: sehr wenige können das.

Wir sind privilegiert.

Wie wir aufwachsen: Privilegien qua Geburt

Ich hatte dieser Tage ein Gespräch mit einer Freundin, die mich fragte, ob ich jemals selbst Rassismus erlebt hätte. Ich habe darüber nachgedacht, wie es in meiner Kindheit war und ich erinnere mich an Bemerkungen von Lehrern, als ich ungefähr in der fünften Klasse war. Aber auch ich war privilegiert: obwohl deutlich sichtbar nicht so deutsch wie meine Klassenkameradinnen, war ich durch meinen Status absolut geschützt. Als das Kind eines niedergelassenen Arztes (dessen Namen in meiner kleinen Heimatstadt jeder kannte) und einer Hochschuldozentin, die sich beide immer für ihre Kinder stark gemacht haben, hätte sich niemals jemand getraut, mich ernsthaft anzugehen. Mein Vater war eindeutig ein Ausländer, aber sein Beruf, seine Art zu leben, all das, was er erreicht hatte, schützten ihn. Und dadurch waren auch wir als seine Kinder geschützt. Nein, ich selbst war in meiner Kindheit niemals Benachteiligungen ausgesetzt aufgrund meines Namens oder meines Aussehens (Rassismus übrigens schon. Menschen, die mich radebrechend ansprachen mit "Du nix deutsch?"). Aber ich bin mir sehr früh bewusst gewesen, dass ich in dieser kleinen Stadt durch die Privilegien meiner Familie geschützt war.

Sind meine Kinder sich auch dessen bewusst? Gerade in diesen Zeiten, in denen ganzen Bevölkerungsgruppen und Zugehörigen bestimmter Religionen Rechte aberkannt und Eigenschaften pauschal zugeschrieben werden, in denen Menschen aufgrund ihrer äußeren Erscheinung oder ihrer an äußeren Zeichen erkennbaren Religionszugehörigkeit auch in unserem Land wieder offen(er) angefeindet werden, in denen es wieder salonfähig geworden zu sein scheint,  rassistische Bemerkungen laut zu machen, erscheint es mir wichtiger denn je, meinen Kindern nicht nur immer wieder zu verdeutlichen, welches Glück sie damit haben, wo sie geboren sind und wie sie aufwachsen dürfen, sondern ihnen auch zu vermitteln, dass diese Art Privilegien eine große Verantwortung mit sich bringen.

Kinder am Strand auf Sylt

Was unseren Weg bestimmt

Wie wir ins Leben starten, woher wir kommen, wo wir geboren werden, welche Hautfarbe wir haben, wen wir lieben, an was wir glauben, ob wir einer physischen Norm entsprechen oder nicht, all das sagt N I C H T S darüber aus, ob wir gute Menschen sind. Es sind Eigenschaften, die wir quasi zufällig haben, einfach so, aufgrund dessen, wer wir bereits bei unserer Geburt sind. Kein Mensch sucht sich diese Eigenschaften bewusst aus, sie sind wie sie sind. Dennoch entscheiden sie in unserer Gesellschaft immer noch (oder wieder?) darüber, wie unser Leben weiter verläuft. Sie entscheiden darüber, wie privilegiert wir sind und wie leicht oder schwer unser Weg sein wird. Werden wir angefeindet aufgrund unserer Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit oder nicht? Hören wir uns abschätzige Kommentare an, weil wir den Menschen, den wir lieben, auf offener Straße küssen oder nicht? Maßen sich andere an, über uns zu lachen oder uns anzustarren, weil wir anders aussehen oder uns anders bewegen/sprechen als die meisten oder nicht? Sind wir sexistischen Kommentaren ausgesetzt, wenn wir von der Arbeit nach Hause gehen oder nicht? All das ist entscheidend für die Privilegien, mit denen wir leben.

Dieses eingebette Video zeigt in einem Versuch sehr gut, wer in unserer Gesellschaft aufgrund dieser an seine Eigenschaften gekoppelten Privilegien vorne mitspielt und wer zurückbleibt. Das Experiment tut beim Zuschauen richtiggehend weh, weil es dokumentiert, dass gewisse Bedingungen unseren Weg unerbittlich bestimmen. Am Anfang stehen alle in einer Reihe und halten einander bei den Händen – am Schluss mussten sich fast alle loslassen, weil ihre Privilegien sie voneinander trennen.

Warum schreibe ich heute über Privilegien?

Vor zehn Tagen hat Donald Trump sein Amt als 45. Präsident der Vereinigten Staaten angetreten. Ich möchte jetzt nicht damit anfangen, wie ich bewerte, dass er überhaupt je gewählt wurde. Aber seit er im Amt ist hat er bereits einige seiner Wahlversprechen in die Tat umgesetzt oder versucht es zumindest. Jedes einzelne davon taugt in seiner Auswirkung für ein Horrorszenario und jeden Tag fragen meine Kinder mich: "Warum ist dieser Trump so ein böser Mensch? Warum will er Menschen in Not nicht helfen? Warum soll eine Mauer gebaut werden auf der Grenze zu Mexico? Wieso will er nicht, dass Menschen krankenversichert sind?" Eigentlich ist die Liste endlos und die Antworten auf diese Fragen sind komplex. Ich gebe mir redlich Mühe, differenziert und wahrheitsgemäß zu antworten, aber unterm Strich verstehen die Kinder, dass Trump und die, die ihn gewählt haben, zu den Menschen gehören, die mit ihre Privilegien genau anders umgehen, als wir es unseren Kindern vorleben und uns bemühen, ihnen zu vermitteln:

Sie wollen nicht teilen. Sie denken, dass sie ein Recht auf ihre Privilegien haben und sprechen anderen dieses Recht ab. Sie schließen andere von Freiheit, Wohlstand, Sicherheit und Unversehrtheit aus und trennen sie von ihren Familien. Sie glauben, dass sie mehr wert sind, als andere. Sie sehen auf andere herab, die nicht so sind wie sie.

Die Kinder und ich haben lange darüber gesprochen, was es für uns persönlich bedeutet, Privilegien zu genießen und wie wir damit umgehen. Wieso wir glauben, dass wir damit auch eine Verantwortung für andere haben. Und was die Werte sind, an die wir glauben. Wir haben das aufgeschrieben und ich möchte das heute mit euch teilen. Das ist die Botschaft an meine Kinder, jeden Tag. Das, was ich ihnen mitgeben möchte und wie ich ihnen menschliches Miteinander erkäre.

  • Ihr seid glückliche Menschen – teilt euer Glück.
  • Ihr habt ein Zuhause – helft denen, die keins haben.
  • Ihr werdet geliebt – teilt diese Liebe mit denen, die keine erfahren.
  • Ihr habt immer genug zu essen und mehr als genug Kleidung – teilt mit denen, die das nicht haben.
  • Ihr seid in Sicherheit – gebt ihr anderen die Sicherheit, die sie vermissen müssen.
  • Ihr seid frei – verhelft anderen zu derselben Freiheit, wenn ihr könnt.
  • Ihr dürft sagen, was ihr denkt und für richtig haltet – leiht denen eure Stimme, die zum Verstummen gebracht werden.
  • Euch stehen alle Türen offen – öffnet ihr Türen für die, denen sie geschlossen werden.
  • Ihr seid stark – lasst andere an eurer Stärke teilhaben und macht euch stark für die Schwächeren.
  • Seid euch eurer Privilegien bewusst und begegnet denen mit Respekt und Verantwortungsbewusstsein, die sie nicht haben.
  • Eure Privilegien sind Geschenke, sie stehen euch nicht automatisch zu.
  • Ihr seid niemals allein – bleibt bei und mit denen, die ohne Familie oder Freunde sind.
  • Eure Privilegien definieren euch nicht, aber eure Taten tun es.

Es ist nicht egal, nur weil es uns nicht persönlich betrifft

Ganz gleich ob Trump Dekrete erlässt, die andere ausschließen, benachteiligen oder stigmatisieren oder ob hierzulande die braunen Hassprediger ungebremst ihr Gift vom Stapel lassen, viele verharren wie die drei Affen, nichts sehen, nichts hören, nichts sagen und denken, dass es sie ja nicht betrifft. Sie sind ja nicht anders, keine Moslems oder Juden, keine Einwanderer oder Menschen auf der Flucht, keine Alleinerziehenden, nicht LBGTQ, sie haben keine Behinderung oder sind auf Hilfe angewiesen, sie nicht, sie entsprechen ja der Norm und wollen nichts, als in Ruhe ihr Leben leben. Aber so funktioniert das nicht. Das sage ich meinen Kindern jedes Mal, wenn wir darüber sprechen.

Wir alle formen die Gesellschaft, in der wir leben. Wir haben alle eine Verantwortung dafür, wie unsere Welt aussieht. Wir sind verantwortlich für unsere Mitmenschen, die weniger privilegiert sind als wir und wir haben die Pflicht, uns um Schwächere zu kümmern. Das System, in dem wir leben, sieht das sogar ausdrücklich vor: nicht umsonst gibt es bei uns gesetzliche Kranken-, Sozial- und Arbeitslosenversicherungen. Das Ganze nennt sich Solidaritätsprinzip und ja, man kann darüber diskutieren, wie gut es funktioniert, aber es ist ein Grundprinzip unseres Selbstverständnisses als Gesellschaft. Soldarität mit Schwächeren, gegenseitige Hilfe, das Teilen von Privilegien. Und zwar ohne, dass wir dabei selektieren nach passender Hautfarbe, Herkunft, Religionszugehörigkeit, sexueller Orientierung, Geschlecht, Alter oder dem Status der körperlichen oder geistigen Verfassung.

Wie wir uns als Gesellschaft gegenüber Schwächeren verhalten, bestimmt, wer wir sind und wie die Welt beschaffen ist, in der wir leben. Kümmern wir uns umeinander oder lassen wir andere auf unserer Türschwelle umkommen? Stehen wir auf für die, die unsere Hilfe brauchen oder lassen wir zu, dass sie diskriminiert und stigmatisiert werden? Wenn wir das tun, lassen wir geschehen, dass sich die Welt um uns her Stück für Stück verändert. Türen werden sich schließen, zwischen uns und anderen Menschen, Möglichkeiten werden weniger, die Freiheit kleiner, die Angst größer.

Wir dürfen nicht wegschauen, wenn anderen Unrecht geschieht. Wir müssen es laut sagen, wenn ihre Grundrechte beschnitten oder ihre Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Wir haben eine Verantwortung, nicht nur für unser eigenes kleines Leben, sondern auch für das große Ganze. 

"Manche Menschen brauchen mehr Hilfe als andere, Mama." Genau so ist es. Und wenn wir die sind, die in der Reihe ganz vorne stehen, dann ist es unsere Verantwortung, denen, die drohen zurück zu bleiben, unsere Hand zu reichen und sie mitzunehmen. Daran glauben wir, so leben wir und so erziehen wir unsere Kinder, die mit Privilegien leben, für die sie nichts können. Genauso wenig wie andere für ihre Nachteile.

Passt auf euch auf.

 

23 Kommentare

  1. Liebe Anna, Danke für diesen wundervollen Text! Mir laufen die Tränen, er hat mich unglaublich bewegt und berührt. Wie recht du hast!

  2. Ein so schöner und wahrhafter Text. Als unser Großer im September eingeschult wurde, habe ich versucht, ihm genau das in Ansätzen wieder mit auf den Weg zu geben. Einfach mal nach links und rechts zu schauen…und auch denen zu helfen, die es nicht so gut haben wie wir. Den Mund aufzumachen, für Menschen (Kinder), die sich das evtl. nicht trauen.

    Es wäre eine schöne Predigt für einen Gottesdienst. Ein toller Appell an die gerade etwas chaotsiche Menschheit

  3. Genauso ist es! Genauso sollten wir es vorleben, um unseren Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Danke, dass du das so schön auf den Punkt geschrieben hast!

  4. Oh du sprichst immer aus der Seele, nur leider finde ich nicht so wunderbare Worte wie du, um meine Gedanken jenen zu vermitteln, die anders denken bzw. nur 1 Schritt vor die Haustür….

    Es sollte viel mehr Menschen mit dieser Meinung und Einstellung geben. Ich habe sehr oft Angst über die momentane Entwicklung, aber du gibst mir Hoffnung. Und ich werde mich bemühen meine Einstellung und Toleranz so gut wie möglich zu leben und weiter zu geben.

  5. Liebe Anna,

    dein Text trifft dermaßen den Kern der Sache…ich möchte ihn gerne in der nächsten Woche im Politikunterricht meinen Siebtklässlern zu lesen geben. Sie stellen sich gerade die gleichen Fragen, wie deine Kinder und  weil viele von ihnen nicht das Privileg haben, ein Elternhaus zu haben, dass ihnen solche weisen Worte mit auf den Weg gibt, möchte ich es mit deinen Worten tun.

  6. Danke für deine berührenden Worte!

    Du sprichst mir aus der Seele!

    Alles Liebe, Silke

  7. Das klingt so, als gäbe es eine lebenslange Garantie auf Privilegien. Bei einigen schon, aber behindert können wir alle von einem Moment auf den anderen werden, durch Krankheit oder Unfall. Die sexuelle Präferenz kann sich noch im hohen Alter ändern (oder heraustrauen) und schwups ist die Mutter von 3 Kindern auf der "anderen Seite". Geld kann verschwinden. Sich das klar zu machen, hilft auch, demütig zu sein.

  8. Pingback: »Halt geben, Haltung zeigen« Ein Gespräch mit Anne Luz de Léon {Berlinmittemom} | M i MA

  9. Pingback: Anderswo | gestreift - berührt - geteilt

  10. Pingback: Tollste Blogposts aller Zeiten – Nooborn

  11. Pingback: 2017 – in Euren Worten – juna im netz

  12. Pingback: Mauerfallnächte und politische Bildung | Wochenende in Bildern | berlinmittemom

schreibe einen Kommentar