Meine Kinder spielen im Moment jeden Nachmittag draußen wie wahnsinnig. So als hätte man sie monatelang eingesperrt und sie hätten niemals auch nur die Nase rausstrecken dürfen. Was ja irgendwie auch stimmt, wenn man bedenkt, wie es im langen, kalten Winter so war.

Jetzt jedenfalls holen sie alles nach und sind abends kaum ins Haus zu kriegen. Und allen Nachbarskindern geht es genau so.

Also beziehe ich allnachmittäglich meinen Posten auf der sonnigen Bank vorm Haus, von wo ich sehen kann, was die Gören so treiben und von wo ich auch schnell herbei eilen kann, wenn eins von meinen hinfällt, was kaputtmacht, sich zankt, zum Eismann ausbüxen will oder in fremden Gärten verschwindet.

Und natürlich sehe ich dabei alles. Auch Dinge, die ich lieber nicht sehen würde. Ich liege, bildlich gesprochen, im Fenster, mit Kissen unter den Armen, rauche, saufe Kaffee und glotze. In Wirklichkeit sitze ich gesittet auf meiner Bank, trinke Latte und verstecke mich hinter Laptop und Sonnenbrille, das Ergebnis ist aber absolut dasselbe.

So muss sich Else Kling gefühlt haben, damals in der Lindenstraße, als sie immer im genau richtigen Moment die Szene betrat, um mitzukriegen, was die lieben Nachbarn alles so treiben. Und es muss an der Beobachterinnen-Position liegen, aber mein Blick ist, ähnlich wie der von Else damals, nicht immer der freundlichste.

Mein Beobachtungsposten beschert mir also allerhand Einblicke in nachbarliches Treiben, vor allem aber in das der nachbarlichen Kinder. Und ich stelle bei der Gelegenheit immer wieder fest, wie viele der Kinder ich offensichtlich überhaupt nicht kenne. Es kommt mir manchmal vor, als würde jeden Nachmittag irgendjemand am Ende der Straße Posten beziehen und eine neue Dose Kinder aufmachen, um sie mir vor die Füße zu schicken und mir Anschauungsmaterial zu bescheren.

Und da kommen sie. Sie fahren Skateboard (das sind die größeren Jungs in den Hosen mit zu tiefem Schritt und den zu langen Justin Bieber-Frisuren), sie rennen mit Hockeyschlägern rum und brüllen sich an (das sind die etwas kleineren Jungs, die aussehen wie der Wiedergänger aus Flatliners damals), sie spielen Steh-Geh und malen Kreidekästchen auf die Straße und plötzlich, mittendrin, fangen sie an, Glee-Club-mäßig rumzusingen (das sind die Mädchen zwischen 10 und 13, vielleicht auch zwischen 9 und 14, das kann man unmöglich sagen, die definitiv zu viel Highschool Musical und Germany’s next Topmodel gesehen haben). So weit so gut. Meine Kategorien passen meistens irgendwie.

Aber dazwischen mischt sich Sonderbares: ein Kind auf dem Bobbycar, offensichtlich schon viel zu groß für diese Art Fahrzeug, das unter lautem Gebrüll gegen ein Garagentor fährt. Ungebremst. Mehrfach hintereinander. Und sich jedes mal die Rübe haut. Ein Kind mit Helm aber ohne jegliches Fahrzeug weit und breit, das einen Bambusstock aus einer Rosenhecke zieht und sich diesen permanent auf den Helm kloppt. Dazu singt es fröhliche Lieder und hüpft im Takt. Rhythmusgefühl stimmt. Ein Kind, das bäuchlings über der Rückenlehne einer Bank hängt, der Kopf ist schon ganz rot. Und es hängt einfach da. Lange. Vollkommen unverständlich. Ein Kind, das hartnäckig immer wieder Sand isst. Kein kleines Kind, dass es noch nicht besser weiß, nein, ein Schulkind, Brille auf der Nase, Schaufel in der Hand und immer rein in die Luke. Und grinst dabei.

Und da sitze ich auf meiner Bank und denke: Ich wäre eine schlechte Lehrerin. Oder Erzieherin. Keine Mary Poppins. Ich würde wahrscheinlich nicht verbergen können, was ich über ein Kind denke oder wie ich es sehe. Ich würde die netten vorziehen und die frechen anmeckern, ich würde die klugen toll finden und die nicht so klugen nervig. Ich wäre, glaube ich, gar nicht gerecht, selbst wenn ich mir Mühe geben würde und obwohl ich Kinder grundsätzlich mag. Sehr sogar. Sie interessieren mich und fordern mich heraus und ich mag auch ihre Gesellschaft. Das war schon so, bevor ich eigene Kinder hatte und hat sich seitdem gesteigert. Ich habe viel Verständnis für kindliche Bedürfnisse und dafür, wie Kinder so ticken. Aber man muss ja mal ehrlich sein, es ist mit Kindern, wie mit allen menschlichen Gruppierungen: es gibt liebe und schwierige, kluge und doofe, hübsche und hässliche, gefällige und unangenehme, Arschlochkinder und Sonnenscheinchen…. Eine bunte Vielfalt.

Nein, ich bin keine Mary Poppins. Ich könnte freundlich auf diese Kinder blicken, auch auf diese. Das wäre richtig und gut. Ich könnte wohlwollend sein und mir überlegen, warum sie das wohl tun, was sie da gerade (blödsinnigerweise) tun. Ich könnte denken: ok, manche Kinder finde ich nett, manche eher schwierig, manche haben es halt leichter, sich einzufügen und manche schwerer, manche sind wohl auch glücklicher und andere… naja.

Mach ich aber nicht. Ich hab heute die Else-Kling-Brille auf. Und Else Kling lacht über Mary Poppins. Auch wenn sie weiß, dass Mary Poppins recht hat. Und wahrscheinlich der bessere Mensch ist. Und dass man so nicht über Menschen spricht. Schreibt. Denkt. Und schon gar nicht über Kinder.

Ich weiß das auch alles. Aber manche Kinder, ganz ehrlich, manche Kinder sind einfach Idioten.

(dedicated to sonja s.)

Last Updated on 16. Oktober 2013 by Anna Luz de León

6 Comments

  1. So isses halt einfach. Und über Dummheit hat auch Mary Poppins nicht milde lächelnd hinweg geblickt, wenn ich mich da recht erinnere…

  2. martina van Middelaar Reply

    Mein Gott, du kannst Gedanken lesen, ist mir heute genau (!) so ergangen, ich kann es halt nicht so treffend beschreiben. Das waren nur leider keine fremden Kinder sondern meines Sohnes “Freunde” und ich quäle mich mit schlechtem Gewissen und wünschte mir dass ich ganz easy bin und lustig und drüber steh wenn ich zum hundersten mal höre dass sie lieber X-Box spielen möchten und mich nicht darüber aergere dass Stunden lamentiert und alle 2 Minuten nach Süssigkeiten oder Cola (!) gebettelt wird obwohl man auf dem tollsten Abenteuerspielplatz mit Fussballfeld ist bei 23 Grad im Schatten.(Wasser auch vorhanden in Hülle und Fülle) Da fing ich an diese Kinder nicht zu mögen, bekam schlechte Laune, schnauzte sie an und sagte sogar meinem Sohn dass seine Freunde echt nerven. Dein Artikel hilft mir ein wenig mein schlechtes Gewissen zu relativieren. – Es gibt einfach blöde Kinder, nur wie sag ich es meinem Sohne?

    • Ach, Martina, das merkt er irgenwann von selbst. Ich bin sicher. Und ich finde es, ehrlich gesagt, auch richtig und wichtig, den eigenen Kindern zu sagen, was man denkt. Wie man jemanden findet bzw. sein Verhalten. Nagut, ich sage meinen Kids nicht “das Kind da drüben, guck mal, das ist ein Idiot”, aber wenn sie von selbst aufmerksam werden sage ich schon, dass ich so ein Verhalten nicht gerade bewundernswert finde. Den Unterschied verstehen sie auch: ein Verhalten ablehnen, ohne die Person abzulehnen. Im Idealfall. Wenn meine Selbstbeherrschung und das Bewusstsein für den Erziehungsauftrag gerade sehr groß sind. Und für die anderen Fälle…. hab ich ja Else Klings Brille. Und mein Blog. ;-)

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