Meine große Tochter ist ein gutes Kind. Ein kluges, vernunftbegabtes, vielseitig interessiertes Kind. Eins, das kreativ ist, sehr fantasievoll und sehr empfinsam. Ich könnte viel über sie schreiben, was sie alles gut kann und was ihre herausragenden Eigenschaften sind. Heute widme ich diesen Blogeintrag aber einer besonderen ihrer Eigenschaften: sie ist ein Widerspruchsgeist.

Wahnsinn. Ich mag das an ihr, immer schon, ich mag, dass sie keine Angst hat, ihre Meinung zu sagen und zu verteidigen, auch Erwachsenen gegenüber. Ich mag, dass sie nicht um jeden Preis gefallen will und dass sie, trotz der Befürchtung, es könnte was Schlimmes dabei rauskommen, immer offen in eine Konfrontation geht und nicht ausweicht. Aber. Aber natürlich macht sie das auch mit uns, mit mir. Sie übt sozusagen an uns und kultiviert diese Eigenschaft. Und sehr gerne macht sie es, wenn sie Dinge verzögern oder ausbremsen will, auf die sie keinen Bock hat. Sprich: Hausaufgaben, Klavier üben, Meerschweinchen-Gehege saubermachen. Ansonsten ist sie eigentlich die Liebe selbst, hilft mir oft mit ihren kleinen Geschwistern, bringt den Müll raus und deckt den Tisch, räumt den Geschirrspüler aus und holt Getränke im Keller. Das Übliche eben. Aber wenn es an diese täglichen Dinge geht, die sie immer erledigen muss, wenn sie sich anstrengen und sich überwinden muss, um sich dran zu geben, dann windet sie sich und fährt allerlei Ausweichstrategien.

Nur damit das klar ist: mir ist sehr bewusst, was meine eigenen Ausweichstrategien sind, ich bin die Königin der Ausweichstrategien. Aber im Unterschied zu meiner Tochter habe ich natürlich niemanden, der sich überlegt, wie er diese Strategien austricksen und mich dazu bringen könnte, mein Potential besser auszuschöpfen. Meine Tochter aber hat mich. Und ich habe mich auf das alte Sternen-Karten-System besonnen, ein Belohnungssystem, das ich schon lange kenne, bisher aber bei keinem meiner Kinder angewandt habe. Jetzt ist es bei uns angekommen.

Nachdem wir beim Klavierüben am letzten Donnerstag wieder in Streit darüber geraten sind, ob sie die linke Hand alleine üben muss, ob sie die linke Hand überhaupt üben muss, bis wohin sie das Stück üben muss usw. habe ich mir geschworen, dass das ein Ende haben soll. Ich möchte nicht die Mutter sein, die permanent an ihrem Kind rum meckert, und wenn es nur danach ginge, was ich schön finden würde, könnte sie den ganzen Tag kopfüber an der Reckstange baumeln, nur noch lernen, wenn sie Lust dazu hat und das Klavierspielen würde ihr einfach so zufliegen. Da das aber nicht der Fall ist, musste eine Lösung her. Etwas, das uns beide entlastet und dazu führt, dass wir nicht beide schon im Vorfeld angespannt sind, wenn wir wissen: heute müssen wir Klavierübern, heute müssen wir das Einmaleins wiederholen, heute müssen wir den Aufsatz fertig schreiben etc. In unserem Fall ist es das erste offizielle Belohnungssystem in der Erziehungsgeschichte der Kinder: das Perlensammeln. Zum Glück hatte mir eine Freundin gerade erzählt, dass sie dieses “Anreizsystem für Große” mit ihrer Tochter erfolgreich durchführt, und ich habe es mir gleich zu eigen gemacht.

Für jedes Mal Lernen/Klavierüben/etc. ohne Theater, Gemurre und Gezänk verdient sie 3 Perlen. 15 gesammelte Perlen kann sie bei mir eintauschen gegen “schöne Zeit”, neudeutsch quality time. Nicht in Dinge. Kein Klavierüben gegen die hundertzwanzigste Schleich-Elfe oder so. Also haben wir einen Vertrag abgeschlossen, der das regelt und Dinge auf Kärtchen geschrieben, gegen die sie die Perlen eintauschen kann. Und schon gestern konnte sie ihre ersten 15 Perlen eintauschen gegen eine Massage, durchgeführt von Mama oder Papa. Im Glas mit Kärtchen sind außerdem: 1 Leseabend, 1 Lesemorgen (im Bett), 1 Spieleabend, 1x Übernachten bei Mama&Papa, 1x Eisessen gehen, 1 Schaufensterbummel (ohne etwas zu kaufen!), 1x Computerzeit, 1x DVD-Abend.

Ich war erstaunt, wie einverstanden sie mit meiner Idee war und wie offensichtlich sie sich bemüht, die Perlen zu verdienen. Und als sie gestern die ersten 15 voll hatte, hat sie gestrahlt vor Glück und mir erklärt: “Mama, ich finde das mit den Perlen richtig gut. Weißt du, ich fühle mich auch viel besser jetzt. Viel größer irgendwie. Ich muss jetzt nicht mehr jedes Mal rumheulen und mich anstellen wie ein Baby….” Aha. Interessant, offensichtlich hatte sie das Gefühl, sie könne das gar nicht mehr steuern, es passierte einfach. Mir ging es ja ähnlich: wir haben wie Pavlov’sche Köter aufeinander reagiert. Jetzt helfen uns die neuen Regeln dabei, unser Verhalten quasi neu zu programmieren.

Ach so, unterstützt wird das Belohnungssystem in der Akutsituation des Lernens/Übens mit einer Art Zahlenstrahl. Der geht von 1-10 und funktioniert wie ein Spielfeld: sobald sie beim Lernen/Üben unkonzentriert wird, anfängt rum zu diskutieren, aufs Klo zu gehen, trinken zu wollen, auf dem Stuhl zu zappeln, geht eine vorher gesetzte Spielfigur einen Schritt vor auf dem Zahlenstrahl. Es ist wie ein Frühwarnsystem, ab 2 ist die Chance auf Perlen vertan, bei der 10 angelangt gibt es eine Konsequenz z.B. eine Auszeit. Wir sind bisher noch nicht über die 1 hinausgekommen.

Ich bin ziemlich begeistert bis jetzt, von uns beiden. Und ignoriere geflissentlich die Bemerkung einer Bekannten, sie habe mit ihren Kindern zig solche Verträge und es sei alles irgendwann ausgereizt. Dann müsse man sich was Neues einfallen lassen. Ach ja. Aber ist es nicht immer so? Wir leben doch davon, dasss wir uns ständig was Neues überlegen. Für heute kann ich mir schon mal ausdenken, wie ich die Große um 19h von ihrer Freundin zurück kriege, dabei den übermüdeten Bub nach seiner Übernachtungsparty bei Freund Liam wachhalte bis etwa 19:30 und gleichzeitig die Kleinste in der Wanne einweiche, entsande und abfüttere. Nicht zu vergessen die Massage! Vielleicht kann ich die an den Vater der Kinder delegieren. Das geht doch so während dem Fußball-Schauen, oder? Ich könnte ihm ja anbieten, sich dabei Perlen zu verdienen…

Last Updated on 24. September 2012 by

3 Comments

    • Das war es in der Tat, vielen Dank! Ich hätte bei Gelegenheit gerne mal gewusst, was die Konsequenz bei 10 auf dem Zahlenstrahl ist, mit der ihr “winkt”? Ich habe das bisher relativ ungenau formuliert.
      Vielleicht erzählst du mir mehr davon bei… sagen wir: einem Kaffee? :-)

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