Heute wäre dein Geburtstag. Nein, heute IST dein Geburtstag. Und wie jedes Jahr möchte ich schöne Dinge für dich tun. Ich möchte backen, einen herzförmigen Kuchen mit Zuckerguss und Verzierung, ihn in Seidenpapier wickeln und in einem schönen kleinen Päckchen zu dir schicken. Ich möchte deine Lieblingsblumen kaufen, Arme voller zartrosa Rosen und blauen Hortensien, die man jetzt so gut wie gar nicht bekommt und deine leuchtenden Augen sehen, wenn ich sie dir schenke. Und ich möchte mit dir über rosa Azaleen streiten, dir zuhören, wie du mir nicht erklären kannst, wieso bestimmte Schattierungen von rosa falsch sind und es nur diese einen sein können – keine weißen, eine pinken, keine kräftig gefärbten.
Du bist fort. Du bist schon über drei Jahre fort, und wenn ich die Fotos von dir betrachte, kann ich es kaum glauben. Heute habe ich eins meiner Lieblingsbilder von dir angeschaut; es wurde an der Taufe vom Goldkind aufgenommen und zeigt dich zwischen meinem Mann und mir: du siehst aus wie du, fröhlich, strahlend, voller Leben und – gesund. Das warst du nicht, natürlich nicht. Das wussten wir. Aber wenn ich mir vergegenwärtige, dass du keine zwei Jahre, nachdem dieses Foto entstand, bereits gestorben warst, bin ich fassungslos. Es gibt noch jüngere Bilder von dir, wie du das Goldkind durch das Maibachklämmchen trägst, als würde es nichts wiegen, wie du Nüsse knackst mit dem Herzensmädchen, wie du Äpfel vom Baum pflückst mit dem Lieblingsbub, wie du Lieder singst und dir Spiele ausdenkst für die Kinder. Nicht immer siehst du so strahlend aus, wie auf dem Foto von der Taufe, das ich heute heraus gesucht habe, aber niemals kann man ahnen, dass du schon so nah am Tod warst.
Ich denke an deine Stimme. Wie du dich angehört hast, wenn wir telefonierten. Wie laut und fröhlich du oft warst! Und wie lustig ich es immer fand und wie sehr ich es liebte, wenn du nach Gesprächen mit deinen Schwestern in den rheinischen Singsang verfielst, nur um bei einem Gespräch mit einem Außenstehenden binnen Sekunden umzuschalten auf den offiziellen elaborierten Code und Sound der “Frau Professor”. Wir machten Witze über deine lange Nase und deine Kurzsichtigkeit – beides in Kombination ließ dich schnell mal überheblich aussehen, dabei war diese Kopfhaltung und der Blick oft deinem eingeschränkten Sehen zu verdanken. Deine Freundin Birgit nannte diesen Blick und die Haltung immer “die Königin” und ein ebenfalls bereits verstorbener Kollege von dir hat dich mal als solche portraitiert.
Und dann denke ich an deine Stimme und deinen Ausdruck in den anderen Phasen, den schweren, den dunklen. Wie kleinlaut du dann klangst, wie bedrückt, gedämpft und ängstlich. Dann wusste ich, es gab schlechte Neuigkeiten. Oder ein Migräneanfall hatte dich im Griff. Oder du littest unter den Nebenwirkung einer deiner vielen Chemotherapien oder Strahlenbehandlungen. Dir war übel, schwindelig, du fühltest dich schwach und du hasstest es. Wenig war übrig von “der Königin” in diesen Phasen, viel eher warst du ein elendes kleines Häuflein Mensch in deinem Bett, die lange Nase spitz und blass und in deinen Augen so viel Qual. Nichts war schwerer für dich, als der Verlust deiner Autonomie, der Verlust all deiner Möglichkeiten, die du dein Leben lang so ausgeschöpft und ausgekostet hast. Denn du warst am glücklichsten, wenn du all deine Talente ausleben, alle deine Gaben verteilen konntest: deine Klugheit, deine Belesenheit, dein Gedichtegedächtnis, deine Gastfreundschaft, deine Großzügigkeit in allen Dingen, immateriell wie materiell, deine große Liebe zu den Menschen, deine Toleranz, deine Musikalität und deinen Großmut. Mit dir war es nie langweilig, nicht als ich noch ein Kind war und auch später nicht.
Ich kann schwer vergessen, wie es dir in deinen letzten Lebensmonaten ging, wie du immer weniger wurdest unter dem Verlust all deiner Möglichkeiten und Talente. Nicht mehr gehen können, nicht mehr singen können, nicht mehr vernünftig sprechen können, dich nicht mehr verlässlich erinnern können, keine Gedichte mehr lückenlos erinnern, keine mehr aufsagen können, nicht mehr gut sehen können und schließlich bei allem auf Hilfe angewiesen sein. “Was ist denn am schwersten für Sie im Moment? Was fehlt Ihnen am meisten?”, fragte die liebe Oberärztin auf der Palliativstation gegen Ende mitfühlend. Und mit all deiner Lebenskraft, die noch in dir war, brach es aus dir heruas: “Autonomie! Verlust von Autonomie!” Ich kann den Ausdruck in deinen Augen dabei nicht vergessen, die Verzweiflung und die Angst davor, was noch kommen würde. Du wolltest nicht loslassen, aber irgendwann tatest du es doch und die Königin betrat ein letztes Mal für ein paar Momente die Szene, sagte einige Gedichte auf, verabschiedete sich von ihren Liebsten und… – ging.
Und weil diese Bilder so mächtig sind, bin ich froh, dass ich so viele andere Erinnerungen an dich habe – eine Fülle von Bildern und Szenen mit dir, kleine bunte Sequenzen voller Leichtigkeit, Lachen und Licht. Diese Erinnerungen sind mir kostbar, wie kleine Edelsteine leuchten sie in mir und ich hüte sie und schaue sie mir immer wieder an.
Heute ist (m)ein Glückstag, denn es ist dein Geburtstag und ich denke an all die Dinge, die du mochtest, an all die Feste, die du ausgerichtet hast und an all die Lieder, die wir gesungen haben. Und heute ist (m)ein Trauertag, denn du bist nicht mehr da und ich kann dir nicht mehr sagen, wie schön es immer war mit dir, nicht nur an den Feiertagen. Wie schön es war, dein Kind zu sein und in deinem Blick immer die bedingungslose Liebe zu lesen, sie zu spüren in deinen Gesten und alltäglichen Verrichtungen mit uns, deinen Kindern, an jedem Tag meines Kinderlebens. Wie schön es war, über deine lange Nase zu spotten und dir deine Brille zu reichen, damit du sie dir aufsetzen und besser sehen konntest. Wie schön es war, dir zuzuhören, wenn du uns aus dem Alten Haus vorgelesen hast, drei Kindheiten hindurch, oder den Geschichten der von dir erdachten Fee Lilienfein, die uns in den Schlaf geleitete, wenn wir nicht ruhig werden konnten am Abend. Wie schön es war, dein Lachen zu hören oder die Lieder, die du gerne gesungen und dazu geklampft hast, sommers wie winters – ein riesiges Repertoire und zum Teil das abwegigste Liedgut hast du in uns gepflanzt und gleichzeitig eine große Liebe zur Musik. Wie schön es war, Teil deines Clans zu sein, Nichte deiner Schwestern und deines Bruders, Enkelin deiner Eltern und zugehörig zu all den Geschichten und Familienlegenden, die immer und immer wieder erzählt wurden. Wie schön es war, dass du da warst, genauso wie du warst, liebe, kleine, lustige, laute, scharfzüngige, gnadenlos kluge und großherzige Mama. Wie schön.
Dankbar bin ich heute genau für diese Dinge: dafür, dass ich deine Tochter sein durfte, dass ich es noch bin. Dafür, dass ich deine hellen Zeiten mit dir erleben durfte. Und für die dunklen bin ich auch dankbar. Ich durfte dir immer nah sein, bis zum Schluss. Heute empfinde ich das als Geschenk.
Ich vermisse dich jeden Tag. Happy birthday.
21 Comments
Toll geschrieben. Da kullert mir doch glatt eine Träne runter!
liebe grüße und herzlichen glückwunsch an deine mama, wo immer sie jetzt auch sein mag ♥
meine ist NOCH da, ich drück sie gleich mal fest…
Mir gings ja gestern so ähnlich, da war der Geburtstag meiner Mutter, die im letzten Jahr starb. Ich hoffe sie feiern jetzt da wo sie sind gemeinsam u. Ja wir können froh u. Dankbar sein für unsere Mütter.
LG Ina
Worte die direkt aus deinem Herzen kommen. Wundervoll geschrieben. Deine Mutter IST ganz sicher, wahnsinnig stolz, eine Tochter wie dich zu haben <3.
Wie gut, wenn wir die gemeinsamen Zeiten irgendwann als Geschenk begreifen … Danke für diesen wundervollen, persönlichen Text.
Jules
Ich lese so oft bei dir ,es ist so schön auf deiner Seite zu lesen….heute hab ich ein paar Tränen vergossen…so schön geschrieben….und soo traurig …lg
Schön, dass du so liebevolle Erinnerungen an deine Mutter hast. Ich bin mir sicher, dass du die Fülle von Liebe, die du von ihr erfahren hast, an deine Kinder weitergibst, so dass sie sich genauso geborgen fühlen können wie du als Kind.
Das sah’s. Ganz tief ins Herz getroffen. Danke fürs teilen*
Mann, das haut mich gerade um. Soviel Trauer und Glück in einem Zuge, soviel Kraft, Wärme und Offenheit. Danke Dir!
ich habe meine mutter leider auch an das krebsmonster verloren, da war ich 19…heute lebe ich länger ohne sie als,ich zeit mit ihr hatte und doch…jedes wort konnte ich so sehr nachvollziehen, krampfte sich mein herz vor schmerz über den verlust und füllte sich mit dankbarkeit so eine wunderbare frau zur mutter gehabt zu haben….die letzten monate so schwer…
happy birthday liebe berlinmittemum mum….trink ein glas mit meiner mutter und amüsiert euch, hört sich ganz so an, als würdet ihr euch verstehen….
Was für ein berührender Text- so traurig und gleichzeitig so schön. Deine Mama, die Dich zu diesen Worten inspiriert hat, muss ziemlich viel sehr richtig gemacht haben. Wie wunderbar, wenn unsere Kinder hoffentlich auch einst so liebevoll an uns denken können. Ich drück Dich, liebe Anna. Bis bald, Anja
Normalerweise kommentiere ich nie, aber heute möchte ich es einmal tun. Dein Post hat mich gerührt, zum einen weil ich meiner Mama viel zu selten sage dass ich sie liebe und ich mich lieber mit ihr streite, weil man einfach zu seiner Mama so sein kann wie zu sonst niemandem. Weil sie einem nichts übel nimmt und man sich so richtig auskotzen kann. Und dabei vergisst, dass eine Mama einfach nur alles in sich rein frisst, einfach weil man ihr Kind ist. Zum anderen, weil ich selbst auch meinen Papa an den Krebs verloren habe und die Machtlosigkeit gegenüber diesem langsamen Tod macht mich heute noch fertig. Jeden Tag vermisse ich meinen Papa, jede Sekunde. Wenn meine Töchter spielen, ich ihnen zusehe und denke, dass mein Papa der glücklichste Mensch auf der Welt gewesen wäre, hätte er sie nur kennengelernt. Nicht einmal meinem Mann kannte er, und das ist einfach eine Lücke und ein Gefühl, man kann das nicht beschreiben. Mein Leben ist nicht das, was es einmal war. Und leider wird dies einem viel zu spät bewusst. Ich werde morgen früh gleich meine Mama anrufen und ihr sagen, dass ich sie sehr liebe. Danke für deinen Post!
Hier ist vor drei Jahren ein 15.dezemberkind geboren.
Welch wunderschöner Text. Jede einzelne Zeile!
Wie recht du hast, Deine Mutter war für Dich das größte, so wie Du für deine Kinder das größte bist. Meine Mutter wäre ebenfalls am 15. Dezember 73 geworden, wenn sie nicht eine Woche vor dem großen Geburtstag sehr plötzlich verstorben wäre. Meiner Mum ging es nie schlecht, sie war nie wirklich krank, um so stärker traf mich ihr Tod, so unvermittelt. aber die schlimmste Erkenntnis in diesem Zusammenhang war für mich, dass ich es nicht schaffe, meinem Kind diesen riesigen Schmerz zu ersparen, wenn ich dann an der Reihe bin. Wir haben nur so wenig Zeit gemeinsam, daher lasst uns die Zeit so gut wie möglich nutzen, mit Herztorte backen, Hortensien suchen und Azaleen betrachten!
Liebe Anna, dieser Text berührt mich sehr; der Geburtstag Deiner Mama heuer ist der 1. Todestag meines Papas. Ja, der Autonomieverlust – das war es auch, was er beklagte, und was den Ausschlag für sein Gehen brachte im Immer-Schwächer-Werden. So gut ich ihn verstehen kann, so unglaublich und unfaßbar ist es doch auch heute. Sei herzlich gegrüßt.
Dein Text berührt auch mich sehr und mir kommen die Tränen. schön geschrieben und aus dem Herzen. Ich muss dabei an meine Mutter denken. Sie ist 2008 von uns gegangen mit nur 65Jahren. Krebs ist eine schlimme Krankheit. Ich vermisse sie sehr oft und bin traurig das sie meine Kinder nicht mehr kennenlernen konnte. Wenn ich traurig bin erzählt mir meine Tochter, das meine Mutter von oben uns zusieht. Ich wünsche dir alles gute.
Beim Lesen sind mir mehrfach die Tränen gekommen. Ich denke,die Mutter zu verlieren ist mit das Schwerste im Leben. Ich wünsche dir die Kraft, mit diesem Verlust zu leben.
Liebe Anna,
dein Post hat mich sehr berührt, zu Tränen gerührt und mir klar gemacht, wie wichtig es ist die Zeit mit meiner Mama als Geschenk zu betrachten. Ich liebe meine Mama. In den letzten Jahren bin ich aber manchmal auch so oft so genervt von ihr. Ich fühle mich in vielen Situationen als wenn ich mich rechtfertigen müsste, als wenn ich eigentlich noch gar keine Kinder haben dürfte, weil ich es nicht richtig mache. Ständig diese besserwisserischen Fragen und Kommentare. Vor einiger Zeit wurde mir dann aber bewusst, dass es damit zu tun hat, dass ich ja Mamas Kind bin und immer sein werde und dass diese besserwisserischen Dinge eben dazu gehören. Deine Zeilen machen mich nachdenklich und zeigen mir, dass ich darüber hinwegsehen muss, denn jeder Moment mit meiner Mama ist kostbar. Viel kostbarer als ich bisher annahm. Ich erinnere mich daran, dass ich als Kind manchmal geweint habe, weil ich nie ohne meine Mama sein wollte. Ich hatte so große Angst vor ihrem Tot. Und jetzt, in diesem Moment, nach deinen Zeilen, ist sie wieder da, diese große Angst. Danke für’s ” Augen öffnen”!!!
Danke fürs Teilen, ich bin sehr berührt <33
Das hat mich wahnsinnig berührt. Meine Tante ist am 18.12.2014 ebenfalls mit nur 49 Jahren von uns gegangen. Der Krebs hat ihr alles genommen. Wir sind wahnsinnig traurig. Sie hinterlässt eine Tochter im Alter von 17. Das Leben ist nicht fair. Die Hoffnung bleibt, dass wir uns alle irgendwann mal wiedersehen.
<3