Ein Ort so lebendig summend wie ein Bienenstock. Ein Ort so beschützt und abgeschieden wie ein Nest in einer Baumhöhle. Das sind die Sätze, die mir durch den Kopf gehen, als ich das Geburtshaus Charlottenburg erstmalig betrete. Ich denke kurz, dass ich bestimmt die einzige bin, die nicht schwanger ist und auch kein Neugeborenes dabei hat, die nicht zur Rückbildung und nicht zur Vorsorge gekommen ist und die nicht das vertraute Gespräch mit "ihrer" Hebamme führen wird, wenn sie erst richtig angekommen ist. Fast bedaure ich es, dass ich nur eine Besucherin bin, für die all diese Dinge schon einige Jahre zurück liegen: Schwangerschaft, Geburt und Nachsorge. Aber dann treffe ich Christine Bruhn, mit der ich hier verabredet bin, die Geschäftsführerin im Geburtshaus Charlottenburg und mein Bedauern verfliegt. Sie führt mich tiefer in die Räume des Geburtshauses hinein, tiefer in diese vertraute Atmosphäre zwischen den Schwangeren und "ihren" Hebammen, und ich sehen Entbindungs- und Beratungszimmer – liebevoll gestaltete Räume, die wiederspiegeln, was hier geschieht: achtsamer Umgang mit schwangeren und gebärenden Frauen.

geburtshaus charlottenburg

Wir suchen uns ein ruhiges Eckchen und setzen uns, denn ich bin heute Abgesandte der GLS Bank  und freue mich auf ein Gespräch über etwas, das mich beschäftigt hat seit ich selbst Mutter bin: die selbstbestimmte Geburt. Wo könnte man besser darüber sprechen als hier, denke ich und erinnere mich an mein "erste Mal" in einem Geburtshaus. Damals war ich schwanger mit meinem Sohn, traumatisiert durch die fremdbestimmte und durch choreographierte Geburt meiner großen Tochter und voller Skepsis gegenüber einem ganzen Berufsstand – den Hebammen. Mit diesem Gepäck betrat ich 2006 erstmalig das Geburtshaus am Treptower Park und traf Katja, "meine" Hebamme, die mein Bild von Hebammenarbeit und Geburtshäusern gerade rückte und mich ganz nebenbei auch noch von meinem Geburtstrauma entlastete. Obwohl das Geburtshaus Charlottenburg einerseits ganz anders wirkt als das damals in Treptow, erkenne ich die vertraute Atmosphäre wieder, die von gegenseitigem Respekt von Achtsamkeit geprägt ist.

Zu Christine Bruhn spüre ich gleich einen Draht und nachdem wir kurz über die allgemeinen Daten rund um das Geburtshaus Charlottenburg gesprochen haben (es ist z.B. das älteste und größte Geburtshaus Deutschlands, vor über 27 Jahren gegründet, seitdem wurden hier über 6000 Babys geboren), kommen wir sehr schnell zu einem Thema, das sie sich auf die Fahnen geschrieben hat und das mir persönlich sehr am Herzen liegt: die außerklinische Geburt und die Frage nach der Zukunft der freiberuflichen Hebammen.

Viel wird dieser Tage darüber geschrieben, was für die Hebammen auf dem Spiel steht und was die Pläne der Krankenkassen, die außerklinische Geburt zu einer Privatleistung zu machen, für die Schwangeren und ihre Familien bedeutet. Aber vielleicht die wichtigste Frage ist: was bedeutet diese Entwicklung eigentlich für unsere Gesellschaft?

Hebammenmangel und eingeschränkte Angebote

Christine Bruhn ist tief in der Thematik und spricht engagiert, als sie mir vom sich jetzt schon immer dramatischer zuspitzenden Hebammenmangel erzählt, der dazu führt, dass sie im Geburtshaus Charlottenburg für immer mehr Schwangere die Betreuung ablehnen müssen. Dabei gibt es hier zwölf freie Hebammen, die Vorsorge, Betreuung unter der Geburt und Wochenbettbetreuung anbieten. Aber zwölf können den Bedarf nicht abdecken. Und die Situation in Berlin ist im bundesweiten Vergleich noch luxuriös, denn in anderen Gebieten Deutschlands werden die Angebote der Geburtshäuser bereits eingeschränkt: gerade hat beispielsweise eine Bonner Hebammenpraxis bekannt gegeben, dass sie keine Geburten mehr betreuen, sondern lediglich Vorsorge und Wochenbett abdecken können. Damit sind sie längst nicht die ersten.

Im selben Maß, in dem sich die Situation für freiberufliche Hebammen zuspitzt, tut sie es auch für Schwangere und junge Familien, für die die Möglichkeiten einer außerklinischen Geburt immer weniger werden. Christine Bruhn und ich sprechen über die Auswirkungen, die diese Entwicklung  auf unsere Gesellschaft haben wird und bereits hat.

Der Stand der Dinge

Christine Bruhn hat im Geburtshaus Charlottenburg in den letzten Jahren viel Öffentlichkeitsarbeit und berufspolitische Arbeit gemacht, Politiker eingeladen und den Dialog gesucht, beispielsweise auch mit Bundesgesundheitsminister Gröhe. Sie wollte nicht nur die Aufmerksamkeit für die bekannte Problematik steigern, sondern auch auf die fachlichen Aspekte der Debatte lenken, denn Qualität und Sicherheit der außerklinischen Geburtshilfe sind hoch.

Zahlenmäßig stehen außerklinische Geburten genauso gut da wie Kliniken, wenn es um das kindliche Outcome geht. Der ganz entscheidende Punkt ist aber folgender: was die Frauengesundheit betrifft, sind die außerklinischen Geburten den klinischen überlegen, denn es passieren weniger Verletzungen unter der Geburt – und das sind nur die, die gezählt werden, also die körperlichen Verletzungen. Was unter der Geburt an seelischen Traumata entstehen kann, fällt aus dieser Statistik komplett heraus.

Schließlich sagt sie: "Mir ist im letzten Jahr klar geworden: das reicht nicht. Die Öffentlichkeitsarbeit hier im Geburtshaus reicht nicht. Auch die Hebammeninitiativen und die Elterninitiativen sind gut und wichtig, die Petitionen und der Protest und die Plakataktionen sind gut und wichtig, aber das ist nicht genug. Das sind ja die Menschen bzw. Bevölkerungsgruppen, die sowieso wissen, was auf dem Spiel steht. Wir müssen uns aus diesem Kreis von Familien und Hebammen heraus bewegen und andere Gruppen erreichen. Wir müssen vermitteln, warum außerklinische Geburten überhaupt so unglaublich wichtig sind und welches Wissen da verloren geht, wenn es keine Alternative zur Klinikgeburt mehr gibt. Wir müssen durchdringen mit der Botschaft, dass es immer weniger Ärzt*innen in Kliniken gibt, die physiologisch normale Geburten betreuen können und dass die Hebammen diejenigen sind, die dieses Wissen haben und weitergeben. Diese Botschaft müssen wir in Bereiche bringen, die nicht zwangsläufig Berührungspunkte mit Geburt und Familienplanung haben."

Die Gesellschaft ohne Geburtskultur?

Ich frage Christine Bruhn, wie sie sich erklärt, warum die Mehrzahl der Menschen in unserer Gesellschaft nicht mehr weiß, um was es da geht. Oder dass ein guter Start ins Leben als Familie sehr wohl an den Verlauf der Geburt gebunden ist.

"In unserer Gesellschaft ist das kollektive Wissen über Geburt überhaupt nicht mehr da. Dass unsere Geburtskultur außerordentlich wichtig ist und viel über uns als Gesellschaft aussagt, machen sich die wenigsten klar. Die gängige Meinung ist ja, dass diese Thematik nur die Frauen betrifft, die gerade jetzt Kinder kriegen. Dass aber von der Art und Weise einer Geburt alles abhängt, was dann kommt und daran anschließt und damit das gesamte Lebensumfeld betrifft, das ist als Information in den Köpfen nicht vorhanden. Tatsächlich sind die Geburt und ihr Verlauf eben nicht ein abgekoppelter Prozess, der keinen Einfluss darauf hat, wie eine Familie danach ihr gemeinsames Leben aufbaut. Im Gegenteil: die Entwicklung der Familie, die kindliche Entwicklung, das Bindungsverhalten von Mutter und Kind, all das ist eng an den Verlauf der Geburt gekoppelt. Auch die mütterliche Entwicklung ist davon betroffen, die körperliche ebenso wie die seelische. Denn das Selbstverständnis als Mutter muss sich ja auch erst entwickeln. Dabei kann eine gute selbstbestimmte oder eben eine traumatische Geburtserfahrung ein entscheidender Faktor sein. "

Geburtshaus Charlottenburg

Schwangerschaft als Krankheit, Geburt als Problem

Schon seit Jahren ist unser Blick vorrangig auf das gerichtet, was schief gehen könnte, wenn es um Schwangerschaft und Geburt geht, darüber sind Christine Bruhn und ich uns einig. Wir schauen heutzutage in erster Linie auf die Problemfälle, die Komplikationen und Risikogruppen und verlieren dabei den Blick für das Gesunde: die physiologisch normale Geburt, für die wir eigentlich gemacht sind. Der Wunsch danach, alles unter Kontrolle zu haben, alles zu optimieren, auch uns selbst, ist dabei übermächtig und alles, was eigentlich natürlich ist z.B. wie Gewichtszunahme in der Schwangerschaft oder die Geburtswehen, die sich in verschiedenen Phasen über Stunden hinziehen etc. werden als zu überwindende Störfaktoren einsortiert. In der Wahrnehmung wird Geburt also zum problematischen Prozess, der jederzeit  ins Pathologische zu kippen droht. 

Dabei ist bei einer gesunden Schwangeren mit unkompliziertem Schwangerschaftsverlauf diese Gefahr zunächst überhaupt nicht gegeben. Aber das kollektive Unwissen über die physiologischen Abläufe bei einer Geburt nährt die Angst vor dramatischen Verläufen, die in Notfällen enden. Dass tatsächlich oftmals die Klinikroutine mit ihren frühzeitigen Standardinterventionen dazu führt, dass der physiologisch gesunde Ablauf der Geburt gestört wird und dadurch Komplikationen begünstigt werden, wird dabei nicht gesehen.

Christine Bruhn erzählt mir, dass in den USA im März letzten Jahres die neuen Geburtsrichtlinien veröffentlicht wurden, um die auch hier immer noch steigenden Kaiserschnittraten zu senken. Inzwischen ist nämlich durch gründliche Untersuchungen klar geworden, dass die hohe Anzahl an Schnittentbindungen nicht etwa zu mehr Sicherheit unter der Geburt führen, sondern dass wieder mehr Frauen durch Komplikationen während oder nach der OP sterben. Ein Zeichen für die längst nötig gewordene Umkehr in der Geburtspraxis auch in Deutschland?

Wir müssen wieder lernen, auf natürliche Prozesse zu vertrauen

Frauen, die Mütter werden, wird oft gesagt, das sei "das Natürlichste, Normalste der Welt" oder solche Dinge wie: "raus kommen sie alle." Tatsächlich aber wird in einer Gesellschaft, die mehr und mehr den Kontakt zu den natürlichen körperlichen Prozessen verliert und sich stattdessen in der Illusion verliert, man könne alles steuern, optimieren und kontrollieren, der Zugang und das Zutrauen zu sogenannten natürlichen physiologischen Vorgängen erschwert. Es ist schwierig, dem eigenen Körper etwas zuzutrauen, wenn er spätestens ab dem Augenblick der Schwangerschaft dauerkontrolliert, medikamentös aufgepäppelt und auf diese Weise problematisiert wird. Es ist schwierig, das Selbstbewusstsein aufzubauen, um zu sagen: ich KANN das, wenn die Umwelt den Zustand des Schwangerseins als heikel bewertet und die Geburt als potentiell pathologischen Prozess, der leicht zur Katastrophe werden kann.

Auch dazu hat Christine Bruhn Ideen: "Für Frauen fängt dieses ambivalente Gefühl für den eigenen Körper schon viel früher an. Wenn ich in die Schulbücher der 10. Klasse heutzutage schaue, was da über Fortpflanzung, Schwangerschaft und Geburt drin steht, ist schnell klar, dass auch hier schon der Blick aufs Pathologische "geschult" und den Mädchen wird auf diese Weise vermittelt wird, dass ihren Körpern nicht zu trauen ist. Wenn diese Mädchen dann irgendwann als Schwangere mit Wehen in die Geburt gehen, haben sie bereits eine Geschichte. Ihr Körperbewusstsein ist dabei ein entscheidender Faktor: wenn sie kein gutes, sicheres Gefühl für sich selbst haben, können sie auch diesem Prozess nicht vertrauen, der mit ihnen vorgeht.

Werden sie an dieser Stelle von einer standardisierten Klinikroutine vereinnahmt oder kommen sie in ein sicheres Umfeld, das ihrer persönlichen Geschichte Rechnung tragen kann, wie es bisher auch hier, im Geburtshaus Charlottenburg in einer 1:1 Betreuung durch eine freiberufliche Hebamme geschieht? Ein Arzt wird immer darauf schauen, wo ein Problem sein könnte – das ist sein Job. Ein*e gute*r Geburtshelfer*in ist dagegen an dieser Stelle verpflichtet, auf das Gesunde, das physiologisch Normale zu schauen und nicht nach Problemen zu suchen. Das macht für die Frauen unter der Geburt einen fundamentalen Unterschied."

Mütter und Töchter

Was wir also eigentlich als Gesellschaft tun müssten ist, unsere Kinder beim natürlichen und selbstbewussten Hineinwachsen in den eigenen Körper zu stärken. Typischerweise geraten Kinder, in diesem Kontext: Mädchen in der Pubertät in die erste große Körperkrise und haben plötzlich ambivalente Gefühle. Als Mütter sollte unsere Aufgabe jetzt sein, ihnen nicht mit Diäten, Germanys Next Topmodel-Standards, Enthaarungscremes und dem Gyn-Besuch bei der ersten Regelblutung zu kommen, sondern ihnen zu vermitteln, dass die Veränderungen ihres Körpes n o r m a l sind. Nichts Komisches, Krankhaftes, Falsches, was es gilt anzupassen, zu optimieren und konform zu machen.

An der Stelle komme ich ins Spiel, denn ich bin mit dem Gebären durch und ich bin weder Hebamme noch Gynäkologin. Aber ich bin Mutter. Ich habe zwei Töchter und einen Sohn, die ich auf unterschiedliche Weise prägen kann und denen ich im direkten Gespräch erklären und im täglichen Zusammenlsein vorleben kann, was wichtig ist, wenn es um die eigene Körperlichkeit geht. Ich kann mir Mühe geben, ihnen das gesunde Hineinwachsen in ihre Körper beim Größerwerden nicht zu erschweren. Ich kann meinen Töchtern mit den Minibausteinen auf dem Weg zum Frauwerden helfen, indem ich ihnen das gute und sichere Gefühl für ihre eigenen Körper nicht (mit) aberziehe. Das ist es, was wir als Mütter tun können.

Geburtshaus Charlottenburg

Aufklärung, Aktionen und edukative Formate

Christine Bruhn macht sich stark für die freiberuflichen Hebammen und noch mehr: für die Rettung der außerklinischen und selbstbestimmten Geburt als wertvolles Kulturgut und Weichenstellung für junge Familien und ihre Kinder. Dabei setzt sie nicht mehr nur auf Proteste, Plakataktionen oder Petitionen. Sie ist maßgeblich beteiligt an der Gründung der Kampagne und des Fördervereins "Normale Geburt", die sich mit den "Tagen der Geburt" vom 25.-27. September 2015 und der Durchführung von Erzählcafés (in Kooperation mit Erzählcafe.net) der Aufklärung widmen wollen, in der Hoffnung, viele Menschen zu erreichen und ihre Botschaft weiter zu tragen: es ist nicht egal, wie wir geboren werden! In moderierten Erzählcafés (öffentlich und kostenfrei), von denen auch am 05. Mai, dem internationalen Hebammentag, deutschlandweit viele stattgefunden haben, sollen im persönlichen Erfahrungsaustausch Geburtsberichte von Zeitzeuginnen jeder Generation hörbar gemacht werden. Dadurch soll auch die Idee des Generationenwissens der Frauen aufgegriffen werden, das früher innerhalb einer Familie zwischen Großmüttern, Müttern und Töchtern leichter abrufbar war als heutzutage, wo die Anforderungen des modernen, hypermobilen Lebens die (Groß)Familien oft weit verstreut.

Mein Gespräch mit Christine Bruhn hat mir noch mal ganz andere Aspekte der aktuellen Diskussion um die Zukunft der Hebammen eröffnet, und ihr Ansatz hat mich überzeugt: Unterschriften alleine reichen nicht. Ein Klick im Netz reicht nicht. Nicht mal Protestieren auf der Straße alleine reicht. Wenn wir für die Zukunft der Familien in unserer Gesellschaft etwas verändern wollen, müssen wir größer denken. Umdenken. Dabei sein. Uns aufstellen. Christine Bruhn tut das. Vielen Dank für ein wunderbares, inspirierendes Gespräch!

Zum Weiterlesen:

Termine für Proteste, Erzählcafés und mehr:

 

Last Updated on 29. März 2018 by Anna Luz de León

5 Comments

  1. Auf dem Bild bist das Du mit Deiner großen Tochter und mit Deiner Mutter? Das sieht sehr liebevoll aus. :)

  2. Hallo Anna!
    Beim Lesen deines Artikels ist mir gerade bewusst geworden, wie sehr ich mir für meine beiden Mädchen wünsche, dass auch sie später selbst entscheiden können, wo sie gerne gebären möchten ( meine große war eine angefangene Geburtshausgeburt, die ihre Fortsetzung in der Klinik fand und meine Zweitgeborene durfte die komplette Geburt im Geburtshaus erleben).
    Mir haben die Gespräche und die Betreuung im Geburtshaus soviel geholfen und ich wünsche allen Mädchen und Frauen, dass diese Möglichkeit bestehen bleibt. Die Hebammen brauchen unsere Unterstützung, damit sie uns Frauen gut unterstützen könne.
    Mit lieben Grüßen aus dem Norden von Hamburg
    Claudia

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