An Tagen wie diesen, wenn der Sommer seine Finger ausstreckt, um den Frühling zu übertönen, wenn die Wiesen und die Bäume und Sträucher so satt grün leuchten, wie im Juli, wenn sich das Zwitschern der Vögel am Mittag mit der Ahnung von Grillengezirp mischt – an Tagen wie diesen hätte ich früher im Garten meiner Mutter unter dem Pflaumenbaum gelegen. Ich hätte die alte Decke genommen, die immer im Bauernschrank in der Diele lag, eine karierte Draußen-Decke, ganz bunt und ein wenig zerschlissen, und ich hätte mich darauf ausgestreckt. Auf die verblassenden Karos hätte ich mich gelegt, ein Buch neben mir, ein Tagebuch außerdem und einen Stift, und ich hätte mich gesonnt und das Gras gerochen und sehr wahrscheinlich nichts weiter getan, als mir Gedanken über mich zu machen: darüber, wer ich sein will oder wie ich werden möchte. Über meine Gefühle für diese Eine oder jenen Besonderen. Über Dinge, die längstens drei Tage von mir entfernt gewesen wären, in die Zukunft oder die Vergangenheit. Ich wäre im Jetzt gewesen, voll und ganz und hätte mein Nachsinnen über meine kleine, große Welt höchstens unterbrochen, um mir einen Saft in der Küche zu holen.

Meine Mutter hätte am Tisch im Schatten gesessen und Klausuren korrigiert oder meine Geschwister moderiert und sie hätte uns ermahnt, die Terrassentür gut zu schließen, damit das Haus kühl bleibt, weil es so ein warmer Tag ist. Ich hätte mich gegenüber diesem familiären Walla abgeschottet und mich taub gestellt. Irgendwann wäre meine Freundin Nettie über den Gartenzaun gestiegen und hätte sich neben mich gelegt. Vielleicht hätten wir Gitarre gespielt und gesungen, vielleicht wären wir spazieren gegangen und vielleicht wären wir abends auf eine dieser Sommerpartys gegangen, die in den nahen Wiesen stattfand, wo wir viele Sommernächte mit vielen Freunden und Freundinnen verbrachten. Orgienwiese wurde der Ort genannt, wir tranken und manche rauchten Gras oder Gottweißwas sonst. Und immer gab es ein Feuer und wichtiges Geküsse mit wichtigen Menschen. Alles war bedeutungsvoll.

An Tagen wie diesen, wenn ich auch noch zufällig in meiner Heimat bin, so wie am letzten Wochenende, und ich rieche das frisch gemähte Gras und sehe den Rhein, dann sind diese Erinnerungen ganz nah. Dann vergesse ich für einen Moment, dass ich nicht mehr fünfzehn bin, dass es die Decke nicht mehr gibt und auch der Schrank ist fort, das Haus gehört uns nicht mehr und der Garten ist uns verschlossen. Dass meine Mutter, die den Garten gehegt und in ihm gelebt hat, tot ist und Nettie und ich seit Jahren nicht miteinander gesprochen haben. An Tagen wie diesen vergesse ich für Augenblicke, dass einige der Freunde aus den Nächten auf der Orgienwiese ebenfalls tot sind, dass ich von den meisten nicht weiß, was sie heute machen und dass ich nicht mal sicher bin, dass es diese Wiesen so noch gibt. Vielleicht stehen da längst Häuser mit Gärten, in denen Teenager auf karierten Decken liegen und in Tagebücher schreiben.

Tage wie diese sind heute, sechsundzwanzig Jahre später, gefüllt mit vollkommen anderen Dingen für mich. Ich bin die, die am Tisch sitzt und arbeitet und die, die nachdenklich ihre Teenagertochter anschaut, wie sie auf der Schaukel sitzt und gedankenverloren in ihre Kopfhörer lauscht. Ich bin die, die zwei Minions moderiert, die Saft eingießt, Erdbeerquark gemacht hat und Eis am Stiel an Truppen voller Sandkastengräberchen verteilt. Ich bin die, die durch ihren Garten geht, der 650km weit entfernt von der Orgienwiese liegt und die dabei Rosen beschneidet, die Clematis hoch bindet und den Hortensien Dünger gibt. Ich bin die, die einen Garten bestellt und ein Haus kühl hält im Sommer, damit man sich darin von der Sommerhitze draußen erholen kann.

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Diese Tage sind mein Heute und mein Jetzt und ich weiß, dass ich mir das vor sechsundzwanzig Jahre nicht mal in meinen kühnsten Träumen ausgedacht hätte: einen Garten, in dem ich die Mutter bin. Ich dachte, dieser Moment, in dem ich in mein Tagebuch schreibe und von diesen wichtigen Küssen berichte, dieser Moment, in dem ich Nettie sehe, wie sie mit der Gitarre auf mich zukommt und wir reden und singen und sind zusammen, dieser Moment, in dem ich losgehe, um Menschen zu begegnen, so intensiv wie nur noch sehr selten später in meinem Leben – ich dachte, dieser Moment ist die Ewigkeit, so wie man mit fünfzehn denkt, dass nur der Augenblick die Ewigkeit sein kann, so nah und klar und bedeutsam.

Fünf Jahre später kam mir das Mädchen unter dem Pflaumenbaum lächerlich vor. Zehn Jahre später hatte ich sie sogar fast vergessen, weil sie mir unwichtig erschien in ihrer kleinen Welt in einer kleinen Stadt am Rhein. Heute, sechsundzwanzig Jahre später weiß ich an Tagen wie diesen, an denen ein leiser Duft von Sommergras und ein bestimmtes Licht über dem Fluss meiner Kindheit die Erinnerungen wie eine Welle in mir aufsteigen lässt, so klar wie einen multisensorischen Mitschnitt aus dem Jahr 1989, dass dieser Moment tatsächlich die Ewigkeit war. Ich wusste es nur nicht.

An solchen Tagen gehe ich durch die Stadt, in der ich aufgewachsen bin und staune, weil ich niemanden mehr kenne. Dabei ist dieses Gefühl für diesen Ort und die Menschen, die ich so gut kannte, doch so nah! In Wirklichkeit liegt fast eine Generation zwischen dem Mädchen auf der karierten Decke und mir, 650km zwischen der Stadt meiner Kindheit und meinem Lebensmittelpunkt heute, Jahre und Städte und Menschen, die in mein Leben gekommen und wieder daraus verschwunden sind.

Ich bin jetzt die Mutter in meinem eigenen Garten und ich gieße meinen Kindern Saft ein und lege die karierte Picknickdecke zusammen, auf der sie eben noch gesessen haben. Die Ewigkeit ist vorbei. Sie ist weitergezogen und kommt nicht mehr zu mir zurück. Sie gehört jetzt meinen Kindern – und sie wissen es nicht.

 

37 Kommentare

  1. Wow, das ist echt klasse geschrieben und auch so wahr. Zum Teil finde ich auch mich darin wieder und dann macht sich da wieder die Sehnsucht bemerkbar auch noch mal Kind/Teenager zu sein und sich nur über das Hier und Jetzt Gedanken machen zu müssen.

    Viele sonnige Grüße,
    Tanja

  2. "Schön" trifft es nicht annähernd. Sprachlos bin ich, weil "schön" nicht reicht. Erst habe ich gelächelt bei der Beschreibung des Sommers, der seine Fühler ausstreckt, dann hatte ich Gänsehaut bei den Erinnerungen an die karierte Decke (die wohl jeder in einer Form hatte!), die Teenagersommernächte und die wichtigen Küsse am Feuer. Und zum Schluss kamen mir die Tränen bei dem Gedanken daran, dass man selbst heute genau die Mutter ist und die Kinder nichts von ihrer Ewigkeit wissen. So viele Emotionen in so wenigen Worten. Du bist eine wahre Wortkünstlerin. So viel Gefühl zu transportieren und den Leser gleichsam lächeln und weinen zu lassen, schaffen die Wenigsten! Ich danke dir, liebe Anna!

  3. Großartig! Vielen Dank! Ich weiß nicht, wann mich das letzte Mal ein Text so berührt hat. Bitte höre nie das Schreiben auf! Danke nochmals für die geweckten Gefühle! Svenja

  4. Da hast du ja mal wieder wirklich wunderschöne Worte gefunden. Das ist der Grund, warum ich immer wieder so gerne zu dir komme.
    Vielen Dank für soviel Seele!
    Lg Jessi

  5. Ach Anna, jetzt ist mein Herz ganz schwer, aber vor schönem Gefühl. Genau das beschreibt Kindheit und Heimat… All diese Gerüche, Geräusche und Gefühle. Das kann nur der Sommer!

  6. Einen Moment die Ewigkeit gespürt beim Eintauchen in diesen wunderschönen Text…danke dafür!

  7. Wow, was für ein Text. Da kamen mir die Tränen. Wunderschön geschrieben. Ich hoffe, dass ich das auch eines Tages so schreiben kann.

  8. Das ist soooo schön und weckt den Duft diese Ewigkeits-Tage ganz tief drinnen in der Erinnerung. Danke dafür!

  9. Liebe Anna,

    so ein schöner, poetischer und wahrer Text! Wegen solcher Artikel liebe ich Deinen Blog. 

    Danke

    Juli

  10. Ach, wirklich schön. Und zeigt auch, dass man seine eigne Heimat finden kann. Weg von der Ursprungsfamilie. Mir gehts genauso. Liebe Grüße, Sarah

  11. Ich konnte es gerade genau spüren.

    Sehnsucht nach diesen einzigartigen der Freiheit.
    Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen ,mit großem Garten ,Sommertage unterm Kirschbaum,Freundinnenbesuch auf karierten Decken.
    Die Oma immerzu im Garten beschäftigt und ich dachte das es immer so bleiben würde.
    Mit 15.
    Heute 25 Jahre später fehlt mir so sehr dieses Gefühl und noch mehr meine Oma.
    Was für immer bleibt wenn auch mein Herz schmerzt sind die Erinnerungen .
    Ich freue mich über meine vier Kinder,der älteste mit 17 geniesst im Moment seine Freiheit ,das ist wunderschön,leider im Nachhinein viel zu kurze Zeit.
    Vielen Dank für den Text.
    Ivi

  12. Ein wundervoller Text,in den man sich sofort einfühlen kann.Auch ich habe Tränen im den Augen.

  13. Anna, was für ein wunderwunderwunderschöner Text! ich bin ganz gerührt und aufgewühlt und nachdenklich und neben der Rolle, dabei sollte ich doch arbeiten. Du hast einen echten Moment für die Ewigkeit für uns alle eingefangen und wieder zum Leben erweckt. Danke!!

  14. Ach Anna. Wieder so ein wunderschöner Text für die Ewigkeit. Weil Du es schaffst dieses Gefühl in Worte zu fassen, dass Kindheit und Sommer beschreibt, und dass man eigentlich nicht in Worte fassen kann. Ich verneige mich tief vor Deinem Talent zu schreiben und könnte mich verlieren in diesen Deinen Worten…! Du hast mich verzaubert! 

  15. So beruehrend! Diesen Ort der Erinnerns ist fuer mich soweit weg, da wir ja wo ganz anders Leben u. auch unsere Familie nicht mal mehr in der Naehe wohnt, sondern wo ganz anders in Deutschland.aber ich habe mir vorgenommen, das unser naechster Urlaub in Deutschland in meine alte Heimat fuehren wird u. darauf freue ich mich schon, wann immer das auch sein wird.

    LG Ina

  16. Wunderschön! Genauso ist es.
    Ich wohne zwar nur 5 km von meiner Heimatwiese mit Decke weg, aber irgendwie erscheint die Entfernung doch oft riesig.

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  18. Michaela Süß Antworten

    Es schnürt mir vor Erinnerungen und Emotionen gerade mein Herz zusammen. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir diese Momente hatten und uns erinnern können. Diese Orte in uns sind so kostbar….

    Ich danke Dir von Herzen für diesen Text 

  19. Mitten ins Herz. Ganz ohne Vorwarnung. Ich kann gar nicht sagen weshalb, aber durch die Geburt meiner Tochter muss ich in letzter Zeit so viel über meine eigene Vergänglichkeit nachdenken. Und dieser Text von dir hat mir ein Stück Frieden damit gegeben. Wenn ich drohe, unruhig zu werden, kann ich mich durch ihn an etwas erinnern, dass ich schon immer gewusst habe: dass ich die Ewigkeit bereits in Händen hielt und dass sie nun für einen kurzen Moment meiner Tochter gehört. Und das ist gut und genau richtig so. Ich danke dir.

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