Ich liebe dieses wilde Wetter, ich hege eine große Gewitterliebe. Gerade jetzt geht ein sehr schönes Unwetter über Berlin nieder und meine zwei kleinen Kinder fürchten sich ein bisschen. Sie machen alle Fenster zu in dem Zimmer, in dem sie schlafen und kuscheln sich in ein Bett. Taschenlampen haben sie sich genommen, ihr Liebblingshörspiel lauter gedreht und sich das dünne Laken über den Kopf gezogen, unter dem sie schlafen wollen. Dort liegen sie jetzt, horchen ein bisschen ängstlich, ob der Donner ihre Geschichte nicht doch übertönt und rufen ab und zu nach mir. Aber das Herzensmädchen und ich, wir stehen am offenen Fenster und bewundern die Blitze, zählen die Sekunden bis zum nächsten Donner und genießen den wilden Wind in der großen Platane hinterm Haus.

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Und während wir dort stehen und das Schauspiel bestaunen, kommen die Erinnerungen…

Ich sehe mich, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, in meinem weißen Sommerkleid mit den roten Pünktchen drauf und in Sandalen, mit meinem Bruder und meinen Eltern durch San Martin de Ampurias spazieren an einem warmen Ferienabend. Auf der Plaza haben wir zu Abend gegessen, mein Bruder und ich sind durch die Ruinen neben der alten Kirche geklettert und hatten ein Eis zum Nachtisch. Es ist heiß, es ist Gewitterstimmung und plötzlich bricht das Unwetter über uns herein. Wir werden klitschnass und rennen zum Auto, mein Bruder auf dem Arm meiner Mutter, ich an der Hand meines Vaters. Ich rutsche aus mit den Ledersandalen und mein Vater hebt mich auf und lächelt mich an. "Keine Angst", sagt er, "gleich sind wir im Auto und da kann das Gewitter uns nichts tun." Ich habe gar keine Angst, vielleicht auch deshalb nicht, weil ich meinem Vater vertraue. Wenn er sagt, es passiert nichts Schlimmes, dann ist das so. Aber meine Mutter hat Angst und ich meine auch, mich daran zu erinneren, dass meinem Bruder das Geblitze nicht angenehm war. Aber wir kommen beim Auto an, dem alten blauen Saab meines Vaters und springen hinein, nass wie wir sind. Mit feuchten Fingern drücken wir die Knöpfchen herunter, um die Türen zu verriegeln und seufzen auf. Geschafft! Und jetzt tut mein Vater etwas, das wahrscheinlich der Grund für meine so genaue Erinnerung an dieses Gewitter ist. Er fährt mit uns die Küstenstraße entlang und hält irgendwo an, von wo aus wir den Strand genau sehen können. Dort sitzen wir im Auto, mein Bruder und ich klettern nach vorne zu unsren Eltern, und wir beobachten das Gewitter, die Blitze, wie sie ins Meer eintauchen, den Regen, der an unsere Scheibe klatscht, den Wind, der die Bäume biegt und zerzaust, wir lauschen dem Donner und fühlen uns sicher in diesem kleinen blauen Auto, irgendwann in den späten Siebziger Jahren an einem Gewitterabend in Spanien. Vielleicht ist das der Anfang meiner Gewitterliebe.

Ich hatte nie wieder Angst vor Gewittern und habe eigentlich ziemlich früh damit angefangen, mit meinen Kindern Gewitter zu beobachten. Wir haben uns auf den überdachten Balkon gesetzt und zugeschaut, wenn die Blitze über den Berliner Himmel zuckten und haben dem Donner gelauscht. Mein Herzensmädchen hat das irgendwie aufgegriffen und teilt meine Gewitterliebe. Sie mag, genau wie ich, dieses beeindruckende Schauspiel. Nicht, dass wir keinen Respekt davor hätten, im Gegenteil. Aber wir fürchten es nicht. Wir bewundern es. Der Lieblingsbub hingegen hat sich von klein auf davor gefürchtet. Er hasst Krach, schon bei einer im Bahnhof einfahrenden S-Bahn hat er als Kleinchen im Tragetuch angefangen zu zittern. Und später hat er viele Jahre lang Silvester nicht gemocht, wegen der lauten Böller und dem Geknalle und Geblitze. Das hat sich zwar ein bisschen verändert, aber Gewitter mag er noch immer nicht Seine kleine Schwester hat er mit diesem Unwohlsein ein wenig angesteckt, scheint mir. Sie hockt also mit ihm unter dem Laken und leuchtet ihm mit der Taschenlampe, obwohl ich glaube, dass das eher seine Angst als ihre ist. Früher hatte er eine andere treue Kumpanin in Sachen Gewitterangst – meine Mutter.

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Das ist eine weitere starke Gewittererinnerung. Es ist ein heißer Sommertag in Berlin. Meine Mutter ist zu Besuch. Eine anstrengende Chemo-Periode liegt hinter ihr und sie erholt sich gerade allmählich. Ihre erste größere Unternehmung ist die Reise zu mir nach Berlin. Immer ist die mit mir und vor allem  mit meinen Kindern verbrachte Zeit ein Motor für sie, etwas, das sie auftanken lässt. Ich nenne es ihr "Benzin". Sie ist also zum Auftanken gekommen und wir unternehmen nichts Anstrengendes. Wir liegen viel auf der Wiese im Garten oder im Park, wir spielen mit den Kindern, lesen ihnen vor, kochen, essen Eis. Sie schläft auch viel und zieht sich dann ins Gästezimmer zurück (das heute Goldkinds Zimmer ist), kommt aber immer wieder zurück zu uns und in unsere Alltagsroutinen. An diesem Tag gehen wir in den Volkspark zu einem Spielplatz. Das Herzensmädchen schaukelt bis in den Himmel und singt laute Lieder, der Bub gräbt selbstzufrieden im Sand, wir sitzen auf der Decke im Schatten und essen Melone und Zitronenkuchen. Irgendwann wird es immer drückender und der Himmel zieht sich zu. Wir packen zusammen und das Herzensmädchen schaut in den Himmel: "Es gibt ein Gewitter, oder, Mama?" Und sie hat recht. Noch auf dem Heimweg treffen uns die ersten dicken Regentropfen und es beginnt, zu stürmen, zu blitzen und zu donnern. Der Bub wimmert ängstlich, er sitzt im Buggy, von meiner Mutter geschoben und zeigt immer wieder ängstlich zu den grauen Wolken hinauf. "Donner drin?" fragt er und jammert leise. Wir schaffen es schnell nach Hause und sowohl meine Mutter als auch der Bub sind erleichtert. Das Herzensmädchen und ich beziehen Posten auf dem Balkon, aber meine Mutter bleibt an der Seite des ängstlichen Lieblingsbubs. Sie nimmt ihn mit hoch in sein Zimmer, dort setzen sich beide in sein Zelt, das sie ihm zur Taufe geschenkt hat und das seine Höhle und Rückzugsort ist. Sie holt seine Lieblingsbücher, macht mit einer großen Taschenlampe ein "Zeltfeuer" unter ein paar transparenten Tüchern, schaut mit ihm Bücher und sagt ihm Gedichte auf, bis das Gewitter vorbei ist. Dort sehe ich sie sitzen, er klein und kuschelig in ihrem Schoß, sie mit ihrer Chemofrisur, selbst gewitterängstlich und dennoch sein sicherer Hort. Das ist eins meiner Lieblingsbilder in meinem Herzen, von meiner geliebten Mutter als liebevolle Großmutter meiner Kinder, die sie immer war, solange sie es konnte.

Die beiden haben sich übrigens auch später noch vor zu viel Krach und Getöse gemeinsam in diesem Zelt versteckt und Bücher gelesen gegen die Ängstlichkeit. Einmal hat meine Mutter einen Silvesterabend mit dem Lieblingsbub so verbracht, bis er entspannt und müde war und willig in sein Bett ging. Das vergisst er nie. "Die Oma und ich", sagt er bis heute, "wir waren Gewitterkumpel. Keine hatte so schön Angst mit mir, wie sie." So war es.

Jetzt schlafen alle, mein Herzensmädchen mit der geteilten Gewitterliebe, meine zwei Kleinen in ihrer Betthöhle, nur ich sitze noch hier, bei geöffnetem Fenster, das Gewitter ganz dicht vor meinen Augen. Voll mit Erinnerungen, voll mit Bildern aus verschiedenen Kindheiten. Und bin dankbar.

signatur

 

Last Updated on 23. Februar 2023 by Anna Luz de León

7 Kommentare

  1. So schön, ich mag deine aufgeschriebenen Kindheitserinnerungen sehr. So liebevoll und so, dass man das Gefühl hat, selbst mit der Taschenlampe unter dem Laken zu sitzen und euch am Fenster zu beobachten. "gewitterkumpel" ist auch ein besonders schöner Spitzname für die "Herzensoma". Alles Liebe!

  2. Ich mag es so sehr wenn Du über deine Mutter schreibst !!! Dann wird die Sehnsucht nach meinem Vater ganz groß !! Auch ich habe Angst vor Gewitter und ich habe diese schöne Erinnerungen wie er immer für mich da war …

  3. Was für ein Glück, solche Texte einfach so lesen zu dürfen! Haben Sie nie daran gedacht, ein Kinderbuch zu schreiben? Sie haben viel zu geben!

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