Manche Menschen sind Helden. Helden nicht, weil sie übermenschliche Kräfte haben oder prestigeträchtige Taten vollbringen, nein. Helden, weil sie ihren Überzeugungen folgen und Dinge auf sich nehmen, um sich für andere einzusetzen.

So eine Heldin ist Hanna. Wir kennen uns seit drei Jahren, als Hannas Sohn und mein Goldkind in eine Kitagruppe gingen, aber seit die beiden nicht mehr in einer Klasse sind, haben wir uns selten gesehen. Im Dezember dann schrieb sie mir eine Nachricht über Facebook. Sie mache sich auf nach Lesbos um vor Ort zu helfen und habe eine Fundraising-Aktion dafür gestartet, ob ich ihren Aufruf teilen würde. Ich schrieb ihr sofort zurück. Mit ein paar Tagen Verzögerung entspann sich ein kurzer Chat. Inzwischen war sie schon in Lesbos angekommen und von nun an verfolgte ich über ihr Facebookprofil, was sie dort erlebte und wie es ihr ging.

Ich kann nicht einmal ahnen, wie es vor Ort gewesen sein muss oder wie es heute ist. Jetzt, wo Idomeni das neue Lesbos geworden ist, wo die humanitäre Katastrophe am Grenzzaun mitten in Europa kulminiert, ist der Focus der Aufmerksamkeit weiter gewandert. Aber im Grunde ist es gleich, wo die Hilfe von Heldinnen gebraucht wird – wenn es sie gibt und sie sich auf den Weg machen.

Ich habe in den letzten Monaten viele verschiedene Sorten von Heldinnen und Helden kennenlernen dürfen, Flüchtlingeshelferin *nen, Broteschmierer*innen, Spendensammler- und verteiler*innen, Menschen, die ihre Wohnungen und Häuser geteilt haben, Menschen, die Essen gekocht und Wäsche gewaschen und Spiele mit den Kindern gespielt haben, Sport- und Bildungsangebote gemacht haben, Ärztinnen, Anwälte, Hebamnen und Lehrerinnen, die pro bono geholfen haben undsoweiterundsofort… Frauen und Männer, die unermüdlich für die Ärmsten der Armen tätig sind und sich auch von Rückschlägen und Anfeindungen nicht aufhalten lassen. Hanna ist sicher eine von denen, die mich am meisten beeindruckt haben, mit ihrer Entschlossenheit und ihrem Mut.

Als sie aus Lesbos zurück war, hat sie einen Brief auf ihrem Facebookprofil veröffentlicht, einen Brief an ihren kleinen Sohn, der versucht zu erklären, warum sie tut, was sie tut und warum wir niemals aufhören dürfen, Menschen mit Menschen zu sein – ganz gleich, woran wir glauben, wie wir aussehen oder wo wir geboren wurden. Hannas Brief ist wundervoll und wichtig und ich fühle mich geehrt, dass sie mir erlaubt, ihn hier heute mit euch zu teilen.

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"Mein Liebling,

du und ich wir haben so viele Dinge, die andere Menschen nicht haben. Nicht nur solche, die man sehen und anfassen kann. Wir haben uns und wir sind umgeben von so vielen Menschen, mit denen uns ein Band der Liebe verbindet, eine ganz selbstverständliche mühelose Liebe. Wir haben ein heiles Zuhause, wir sind gesund, wohlauf – körperlich wie geistig und haben dadurch die Möglichkeit unser Leben zu leben, ohne uns darüber Gedanken zu machen. Wir sind in einem Land geboren, in welchem wir uns nie Sorgen um unsere Sicherheit machen mussten. Uns wird die Möglichkeit auf Bildung gegeben, mit der uns alle Türen offen stehen und durch die wir unsere Zukunft selbst bestimmen können. Wir mussten noch nie Diskriminierung erfahren.

Wir haben so viele Möglichkeiten ohne auch nur irgend etwas dafür getan zu haben. Wir sind nicht besser oder schlechter als jeder andere Mensch auf diesem Planeten. Wir haben diese Vorteile nicht, weil wir sie verdient haben, sondern einfach aus Glück. Wir haben einfach eine besser Startposition mit bekommen. Nichts, worauf man stolz sein kann. Tatsächlich sind wir aber dadurch viel mehr in der Verantwortung, unser Glück mit der Welt zu teilen. Nicht nur im Hinblick auf materielle Dinge. Wir sollten unsere Vorteile nutzen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, indem wir uns für die Menschen einsetzen, die es selbst nicht können und uns gegen Unrecht stark machen.

Der Sinn des Lebens liegt nicht darin, es mit dem kleinstmöglichen Aufwand zu durchlaufen. Unsere wahren Stärken kommen erst dann zum Vorschein, wenn sie herausgefordert werden.
Manchmal endet ein Abenteuer mit Narben und große Liebe mit gebrochenem Herzen, aber ohne überhaupt das Risiko eingegangen zu sein, wird man nie erfahren, wie wunderschön das Leben wirklich sein kann. Deine Narben werden verblassen und dein Herz wird heilen, und anschließend wirst du ein klein wenig weiser und besser vorbereitet sein auf alles, was dir noch bevorsteht.

Leider gibt es sehr viele Menschen auf dieser Welt, die in Ländern leben und aufwachsen, in denen es nicht so sicher ist. Orte, an denen sie Angst um das Leben ihrer Kinder und Familien haben. Viele von diesen Menschen sehen nur eine Lösung – nämlich ihr Zuhause zu verlassen. Diese Mamas, Papas, Kinder, Großeltern, Freunde und Nachbarn mussten alles zurücklassen, was sie kannten und trotz aller Gefahren die Reise ins Ungewisse antreten. So eine Entscheidung ist nicht einfach und sie ist auch keine, die sie jemals freiwillig hätten treffen wollen. Ich kann mir persönlich nichts Heldenhafteres und Schreckenerregenderes vorstellen, als meine Kinder zu nehmen und sie über Berge und Ozeane zu tragen, um einen sicheren Ort zu finden, den man wieder ein Zuhause nennen kann. Aber ich würde für dich dasselbe tun, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, und ich würde hoffen, dass wir auf unserem Weg Menschen begegnen, die uns Wärme und Mitgefühl entgegenbringen.

Lesbos, Flüchtlingshilfe, Refugees Welcome, Flüchtlingsroute, Brief an meinen Sohne image2

All diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich versuche, die Erlebnisse der letzten Woche zu verarbeiten. Die Zeit in Lesbos hat mich geprägt und verändert und eine Gewissheit, die ich dort gewonnen habe, ist die, dass es nichts Wertvolleres gibt, als die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden. Du hast diese Fähigkeit, obwohl du erst 6 Jahre alt bist. Als ich dir gezeigt habe, wohin meine Reise geht und du erfahren hast, dass dort auch Kinder in deinem Alter Hilfe brauchen, hast du etwas getan, von dem ich glaube, dass dazu jeder Mensch in der Lage ist – manche wissen nur leider nicht, wie: du hast mit deinem Herzen geschaut. Du hast die Welt durch ihre Augen gesehen und den Wunsch verspürt, zu helfen, was du auch getan hast. Du bist ein unglaublicher kleiner Mensch, der die Welt ohne Grenzen und kunterbunt sieht. Ohne dich hätte ich mich vielleicht nicht erinnert, wie viel schöner die Welt genau dadurch ist.

In Liebe,
Deine Mama"

Liebe Hanna, ich danke dir für deine Gedanken, für deinen Einsatz und deinen Mut. Und für dein großes, offenes und mitfühlendes Herz. Du hast als Flüchtlingshelferin nicht nur geholfen, Menschen konkret aus einer lebensbedrohlichen Situation zu retten, du hast ihnen au0erdem gezeigt, dass es hier andere Menschen gibt, denen es nicht egal ist, was mit ihnen passiert. Die auf sie warten und ihnen helfen werden, einen sicheren Ort und eine neue Heimat zu finden. Dein Sohn ist sehr stolz auf dich und das zu recht. Danke, dass du uns diesen Brief und deine Gedanken anvertraut hast. Wir können alle viel von dir lernen.

Passt auf eure Liebsten auf und drückt sie ans Herz. Lasst uns dankbar bleiben.

signatur

Last Updated on 25. Juli 2016 by Anna Luz de León

2 Kommentare

  1. Das ganze Flüchtlingsthema nimmt mich immer wieder mit… die Kinder tun mir so unendlich Leid. Vielen Dank für diesen schönen Beitrag!

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