Vor kurzem unterhielt ich mich mit einer Freundin darüber, wie wenig man vor fünfzehn oder zwanzig Jahren von den Dingen erahnen konnte, die heute unser Leben bestimmen. Wie ahnungslos man war. Wie viele Fragezeichen im Kopf man mit sich herum trug – und wie weit entfernt man sich von den Antworten glaubte. Rückblickend ist das irgendwie auch lustig, andererseits aber durchaus ein bisschen tragisch, denn ich erinnere mich gut an viele verwirrende Gefühle, Entscheidungen, die mich zu überfordern schienen, Umwege und Irrwege und so manche scheinbare Wahrheit, die mich zeitweise lähmte. Hätte ich doch schon gewusst, was ich heute weiß – vielleicht hätte ich dann weniger Bedenken gehabt? Weniger Ängste? Weniger Unsicherheiten und dafür ein bisschen mehr Vorfreude?

Mit "Dear me" hat Youtube zum Internationalen Frauentag am 08. März in einer Kampagne dazu aufgerufen, per Video einen Brief an das eigene jüngere Ich zu verfassen und damit eine Art Ermutigungs-Stream angestoßen, der sich inzwischen unter dem Hashtag #dearme auch auf andere Social Media Kanäle wie beispielsweise Twitter erstreckt.

Die liebe Sonja von Feingedacht hat dazu auf ihrem Blog selbst etwas geschrieben und mich dann eingeladen, mich ebenfalls mit diesem Thema zu befassen. Und das möchte ich hier und heute tun. Nicht mit einem Video, das nicht. Schließlich ist das geschriebene Wort eher mein Medium. Aber den Text, der mir dazu aus den Fingern geflossen ist, den möchte ich heute hier teilen. Dear me…

Liebe Anna von 1989, 

das Leben kommt dir im Moment unfassbar verwirrend vor und du glaubst, du kannst niemals all das bewältigen, was sich vor dir auftürmt. Du denkst, dass niemand dich versteht und deine vielen Fragen über das Leben im Allgemeinen, die Liebe im Besonderen und deine persönlichen Anfechtungen im Oberspeziellen teilen kann, aber du irrst dich. So wie dir geht es allen deinen Freund*innen um dich herum, auf die ein oder andere Art. Das, was du im Augenblick durchmachst, fühlt sich unvergleichlich und schwer an, aber glaub mir, es geht vorbei. Dieser Moment, in dem du nicht weißt, wer du eigentlich bist und in dem du dich vor all denen schämst, die dich seit Jahren kennen, weil du dich so heftig und rettungslos in ein Mädchen verliebt hast und nun das Gefühl hast, dich selbst nicht mehr zu kennen – er geht vorbei. Du wirst Wunderschönes erleben und auch Beängstigendes, aber das ist in der Liebe manchmal so. Du denkst jetzt, du passt nicht in die Schublade und du möchtest es doch so unbedingt, aber ich sage dir: vergiss diese Schublade. Vergiss all die Schubladen, die du kennst, verschließ sie fest und schau nie mehr hinein. Darin ist nichts, was du haben möchtest, nichts, was dir raten kann und nichts, was dir hilft, deine Flügel auszubreiten. Dear me…

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Liebe Anna von 1993,

herzlichen Glückwunsch zum bestsandenen Abitur! Hör auf, dich zu sorgen, was aus dir werden soll. Deine Lehrer*innen, die euch seit Jahren predigen, dass die Welt nicht auf euch wartet und ihr es schwer haben werdet, haben keine Ahnung. Sie sind engstirnig und ängstlich und haben sich seit Jahrzehnten nicht von der Stelle bewegt, aber du kannst es und du wirst es. Es ist im Moment nicht wichtig, was du werden willst, viel wichtiger ist, wer du bist und wer du sein möchtest. Wenn du diese Stadt verlässt, die du so liebst und von der du dich schwer trennen kannst, werden Wunder auf dich warten. Und sie kommen nicht nur in Gestalt von Büchern, aus denen du erstaunliche Dinge lernen wirst, nein, sie kommen zu dir in Gestalt von großartigen Menschen, die dich berühren, verzaubern und bewegen werden. Du wirst in den nächsten Jahren Dinge erleben und Menschen begegnen, die du nie mehr vergessen wirst, du wirst in ihre Geschichten eintauchen, du wirst sie ein Stück begleiten und sie dich, und selbst wenn eure Wege dann wieder auseinander streben, wird all das Erlebte in dir bleiben und dich formen. Freu dich auf das, was kommt und vertrau dir selbst. Die richtigen Dinge werden zu dir kommen zur richtigen Zeit. Dear me…

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Liebe Anna von 1998,

gerade stehst du in deiner Wohnung und packst Koffer und Kisten. Du bist traurig und wütend und hast das Gefühl des totalen Scheiterns auf allen Ebenen. Und du bist verletzt. Es ist mehr, als nur die Tatsache, dass eine große Liebe zerbrochen ist und mit ihr viele der Pläne, die du für die nahe gemeinsame Zukunft mit diesem einen besonderen Menschen hattest. Es ist für dich die Manifestation der Ahnung, dass Liebe nicht funktioniert. Du glaubst heute und hier, dass das Leben dir jetzt endlich bewiesen hat, was du schon immer wusstest: "They're singing songs of love but not for me…" Und es ist typisch für dich, dass du jetzt nicht versuchst, dir das Gegenteil zu beweisen sondern dass du dich bestätigt fühlst in deinem Misstrauen allen Beziehungen gegenüber. Du bist fest entschlossen, das nie mehr zu zu lassen. Das Leben hat keine Liebe für dich? Gut, dann nicht. Dann wirst auch du deine Liebe künftig unter Verschluss halten. Bitte schön. So ist das nicht, glaub mir. Verbarrikadiere dein Herz nicht so nachhaltig, es wird alles gut. Jetzt denkst du, dass du dich nie davon erholen wirst, was dir passiert ist, aber das wirst du. Diese große Liebe wird in deinem Herzen nicht überschrieben werden, aber sie hat nur den Weg bereitet für eine noch intensivere Beziehung, die auf dich wartet, in gar nicht allzu ferner Zukunft. Heul dich ruhig aus, leck deine Wunden und wüte gegen die Welt, aber sei gewiss: sie hält noch etwas für dich bereit. Etwas ganz und gar Wunderbares, das dir bald begegnen wird. Dear me…

Liebe Anna von 2001,

es ist soweit. Aus der neuen spielerischen Liebe ist etwas Großes geworden, und jetzt steht dieser Mensch vor dir und will… alles. Und du hast den Drang, wegzulaufen, alles zu zerstören und deinem Glauben zu huldigen, dass Liebe nur für den Moment taugt und nicht für eine lange Strecke Leben. Tu das nicht! Wag dich in dieses Leben, trau diesen Gefühlen und vertraue diesem Menschen, der dir anbietet, mit dir gemeinsam alles zu riskieren. Was auf dich wartet, wenn du es jetzt nur zulässt, ist das Schönste, das du je erleben wirst. Jetzt glaubst du nicht daran, du wagst dich nicht, daran zu glauben, aber dieser kleine große Traum aus deinen frühen Teenagerjahren wird wahr werden: Glück. Eine Familie. Kinder. Der Mensch, der dich sieht, wie du bist, der dich liebt und nicht von dir lässt, selbst wenn du dich wirklich wirklich bemühst, ihn zu verscheuchen. Geh den Schritt, genieß ihn und lass dich fallen. Dieser da, der wird dich auffangen. Dear me…

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Liebe Anna von 2011,

es ist Frühling und du bist in Paris. Deine Kinder sind wohlbehütet in Berlin und du sitzt mit deinem liebsten Menschen an einem der schönsten Orte, den du kennst. Aber dein Herz ist schwer. Du bist voller Angst und Trauer, denn du weißt, dass noch in diesem Jahr, mitten in diesem hellen Frühsommer, der endgültige Abschied auf dich wartet, auf euch alle. Der Tod geht mit, das tut er schon seit Monaten, aber jetzt wird es immer deutlicher und wann immer dein Telefon klingelt, zieht sich dein Herz zusammen, weil du erwartest, dass das Schlimmste eingetreten sein könnte und dein Bruder, deine Schwester, dein Vater dir sagen werden: "Komm schnell, es geht zu Ende." Du versuchst, den Moment zu genießen, aber du machst dich keine Sekunde frei von dieser Angst: wie sollst du das überleben? Wie sollst du weitergehen – danach? Wie soll ein Leben sein ohne diesen einen Menschen, der dich geboren hat und dich liebt seit diesem Tag deiner Geburt? Lass mich dir sagen: es wird schwer. Es wird an vielene Stellen das Schwerste, das du je ertragen musstest, aber du wirst es ertragen. Und du kannst es jetzt noch nicht wissen, aber es werden gleichzeitig, im selben Raum, in der selben Sekunde die wunderbarsten Dinge geschehen. Türen werden sich öffnen, Licht wird hereinströmen und die Verbindungen, die dich halten und in denen du geborgen bist, werden sich verstärken. Ja, du wirst die tiefste Trauer und auch Verzweiflung erleben. Du wirst in den Augen deiner Mutter all das lesen, wovor du dich jetzt fürchtest, aber es wird ok sein. Ihr werdet ok sein, alle miteinander. Und wenn der Tag gekommen ist, an dem ihr euch endgültig verabschieden müsst, wirst du wissen, dass diese Liebe um dich herum, die dich dein Leben lang eingehüllt hat, dir nicht genommen wird. Deine Mutter wird sterben, ihre Liebe wird es nicht. 

Dear me, das Wichtigste, was ich dir sagen kann ist: bleib bei dir. Lass dir von niemandem Angst machen oder dich von deinem persönlichen Weg abbringen. Sei offen für die Liebe, sei offen für den Schmerz, sei offen für die Dinge, die das Leben dir anbietet und verschließ dein Herz nicht vor den Dingen, die dir Angst machen. Es ist alles miteinander verbunden und es ist alles gut.

Was möchtet ihr eurem jüngeren Ich sagen? Gibt es etwas, das ihr gerne im Vorhinein gewusst hättet und das euch schwere Zeiten hätte leichter überstehen lassen? Erzählt mir davon, wenn ihr möchtet. Und wer ein eigenes Blog hat, kann sich gerne an "Dear me" beteiligen und seinen Beitrag in den Kommentaren verlinken.

Ich freue mich auf eure Briefe!

signatur

23 Comments

  1. liebe anna, was für ein wunderbarer beitrag!
    du warst schon immer eine tolle frau, so ausdrucksstarke fotos – super schön!
    ich muss direkt mal in ruhe für mich nachdenken, was ich meinem früheren ich sagen möchte!

    sei ganz lieb gegrüßt – romy

  2. Dein Eintrag hat mich sehr berührt. Wunderschön geschrieben!

    Erst vor kurzem dachte ich darüber nach, was ich meinem zukünftigen Ich schreiben könnte. In diesem Zusammenhang kam dann natürlich auch der umgekehrte Gedanke zustande. Ich hätte meinem jüngeren Ich viel zu sagen. Vor allem aber, würde ich ihm sagen, dass das Leben schön wird. Dass es glücklich sein wird und all die schweren Zeiten überwinden kann. Und dass es die Ziele, die es sich setzt auch Realität werden lassen kann. Es kann stolz auf sich sein und sollte das auch zeigen und sich nicht klein machen vor all den Menschen, die nicht sehen können, was sich hinter der Schale verbirgt.

  3. Ich habe noch nie Zeilen gelesen, die mich jedes Mal so berühren, wie deine es tun. Das geschriebene Wort ist definitiv DEIN Medium! 

  4. Ich sitze gerade hier und bin überwältigt von der Kraft Deiner Worte! Du schreibst so wundervoll!
    Rückblickend war alles gut so wie es gewesen ist für mich. Gerne würde ich mein jüngeres Ich in den Arm nehmen und ihm sagen, daß alles gut wird. Daß der größte Schmerz nie verschwindet. Sich aber in einen erträglichen ändert.

  5. Oh Anna meine Guteste, genau so trage ich Dich in mir mit mir ‘rum! Herzlichst, die alte Britta

  6. Ganz viel Gänsehaut beim lesen deines Beitrags – und nun einen Flashback in die eigene Vergangenheit … Danke!

  7. Liebe Anna,
    ich bin so begeistert von deinem Blog und hoffe sehr, dass ich in ein paar Jahren auch so eine verständnisvolle, reflektierte und herzliche Mutter sein kann, wie du.
    Dieser Beitrag hat mich besonders berührt, weil ich tatsächlich oft “unkonkrete” Gedanken an mein früheres Selbst habe. Immer wieder denke ich, dass ich mein 13-jähriges Ich gerne mal in den Arm nehmen und ihm Mut zusprechen würde, aber dann verfliegt diese Idee wieder. Jetzt möchte ich ihm einen Brief schreiben. Wer weiß, vielleicht befreit das auch etwas in meinem heutigen Selbst? :)
    Und abgesehen davon stehe ich jetzt gerade kurz vor einem neuen Lebensabschnitt (dem Ende meines Studiums) und sollte vielleicht auch mit mehr Mut und Vorfreude, als mit Zweifeln in die Zukunft gucken?!
    Danke für die Anregung und Inspiration!!!

  8. Wirklich schöne Briefe. Ich hätte mir vermutlich viel konkreter geschrieben, mich vor bestimmten Menschen und Situationen gewarnt und mich ermahnt, niemanden zu verletzen, der mich liebt. Dann hätte ich mir noch verraten, welche Talente in mir schlummern, und dass ich Spaß daran hätte, diese beruflich zu nutzen. Darauf gehört hätte mein junges Ich wahrscheinlich nicht. Aber im Jetzt wäre es schön einen Brief von der weisen alten Uta zu bekommen, der mir sagt "hab keine Angst, alles wird gut"

  9. Pingback: Dear me oder alles wird gut werden | Kinderkram und Campingküche

  10. Pingback: #Dear Me- Eine Reise in die Vergangenheit ~ Glucke und So

  11. Das war ein sehr schöner Beitrag. Aber ich lese Deine Beiträge sowieso sehr gerne :-)

    Ich wollte #dearme daher auch gerne umsetzen und habe es schließlich in einen meiner Mama-Artikel eingebaut. Zum 1-jährigen Geburtstag meiner Tochter, ein Brief an mich selbst, kurz nach der Geburt. Habe darin auch auf Deinen Artikel in der Eltern verlinkt, weil ich ihn ganz bezaubernd fand!

    http://www.mainzer-wohnzimmer.de/12-monate-mama-brief-an-mich-selbst/

    Liebe Grüße
    Nina

  12. Pingback: #dearme | Die Kellerbande mit Herz und Seele

  13. Pingback: #dearme Verliere niemals die Hoffnung

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