Als meine beiden älteren Kinder kleiner waren, etwa fünf und neun Jahre alt, hatte ich einen Traum. Im Traum sprach ich mit ihnen, mit meinem großen Mädchen und mit meinem Sohn – das Goldkind war noch ein Baby – und in meinem Traum offenbarten sie mir noch deutlicher als im Wachzustand ihre kleinen Seelen. Ihre Persönlichkeiten. Das, was sie zu den einzigartigen Menschen macht, die sie sind. Und sie nahmen mich mit in ihre Gärten.

Als ich aufwachte, war mir sehr schnell klar, dass die Gärten, die ich im Traum mit meinen Kindern besucht hatte, ihre Gärten, jeweils ein Bild für ihre innere Struktur waren. Jeder der beiden Gärten zeigte mir, was ich in meinen Kindern sah und was in diesem Stadium ihrer Persönlichkeitsentwicklung charakteristisch für sie war. Ich war entzückt, weil ich diese Bilder für die Persönlichkeiten meiner Kinder gefunden hatte. Weil sie sie mir im Traum geschenkt hatten.

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Der, der Struktur und Ordnung liebt (und braucht)

Der Lieblingsbub führte mich durch seinen Garten, in dem feine Wege angelegt waren zwischen ordentlichen Beeten. Dort wuchsen Blumen aufgereiht wie an einer Schnur und nach Farben sortiert. Wie ein Regenbogen standen da rote, orange, gelbe, grünliche, türkise, blaue, violette und pinke Blüten auf geraden Stengeln und gaben ein großartiges und durch und durch systematisches Bild ab. Gemüse gab es auch: an Stangen gezogene Bohnen, Tomaten an Metallspiralen und Salatköpfe in Reih und Glied. Andere Beete waren mit Schnüren zwischen kleinen Bambusstöcken abgeteilt. Dort war gesät und wie früher im Nutzgarten meiner Großeltern steckten kleine Samentüten auf Stöckchen, die genau bezeichneten, was wo gezogen wurde. Jede Jahreszeit war in diesem Garten und alles hatte seine Ordnung. Im Traum ging ich an der Hand meines Sohnes zwischen den Beeten spazieren und verstand vollkommen, warum dies s e i n Garten war.

Schon mit vier Jahren war mein Sohn von Ordnungssystemen fasziniert. Ich werde nie vergessen, wie er erstmalig das Klavier entdeckte bzw. verstand, wie logisch es aufgebaut und angelegt ist. Dass sich nicht nur die Tasten im immer selben Muster wiederholen, sondern dass die Oktaven auch gleich klingen. Die wiederkehrenden Harmonien verzückten ihn und er saß, die kleinen Beinchen hoch über dem Boden baumelnd, auf dem Klavierhocker im Arbeitszimmer meiner Mutter und drückte wie verzaubert die Tasten. Er spielte mit je einem Finger jeder Hand parallel die Oktaven rauf und runter und probierte zuerst die weißen, dann die schwarzen Tasten und dann bestimmte Kombinationen aus. Dass er in diesem harmonischen und logischen System überglücklich war, ist typisch für ihn, das weiß ich heute.

Er ist das Kind, das das größte Vergnügen am Socken sortieren und zusammenrollen hatte. Zwei Gleiche! Zusammenfügen! Herrlich! Und er ist es, der in einer kurzen Phase (etwa im ersten Schuljahr) jeden Abend auch seine schmutzigen Klamotten vom Tag faltete und mir als ordentliches Päckchen hinlegte. Zahlensysteme liebt er, aber auch die perfekte Ordnung in ästhetischen Strukturen wie den Adern eines Blattes oder einem Schneckenhaus. Sein größtes Dilemma entsteht von jeher, wenn die Ordnung gestört wird. Das kann er sehr schlecht aushalten und hatte lange Zeit keine Strategien, gut damit umzugehen. Wenn er eine Aufgabe nicht gleich 100%ig richtig lösen kann, hat er bis heute ein Problem damit. Nur etwas, das vollkommen ist, ist eigentlich erträglich, alles andere macht ihn nervös.

Heutzutage ist er neun Jahre alt und sein Garten ist vielfältiger geworden. Er lernt jeden Tag dazu, wie er mit Unordnung, Unvollkommenheit und Chaos klar kommt. In seinem Kopf ist es noch immer am liebsten ordentlich und wenn er keine Klarheit über etwas bekommt, ist er nicht so ganz glücklich. Aber inzwischen ist er ziemlich gut darin, seine Klamotten fallen zu lassen, wo er sie auszieht und auch seine Sachen in seinem Zimmer sind längst nicht mehr so ordentlich wie früher. Er lässt Unkraut zu in seinem Garten und kann ertragen, dass es auch mal blüht. Manchmal findet er das sogar schön.

Die, deren Phantasie ihr Zufluchtsort ist

Mein Herzensmädchen nahm mich im Traum in einen ganz anderen Garten mit. Dort blühte und wucherte es wild durcheinander, Jasmin und Rosen dufteten um die Wette und eine blaublühende Clematis schlang sich um beide herum. Große Bäume standen dort mit hohen Wipfeln, durch die der Wind wehte, Himbeer- und Brombeerhecken, in denen die Früchte hingen und kleine Bächlein und Brunnen plätscherten dort. Wir wateten durch flache Wasser und gingen durch kleine Höhlen, kletterten auf Bruchsteinmauern, um eine bessere Aussicht zu haben und fanden bunte Kreidefelsen zwischen tropisch aussehenden Büschen mit riesigen Büten. Sie zeigte mir allerlei Tiere in ihrem Garten, aber neben den Vögeln, die in ihren Stauden und Buchenhecken nisteten, gab es auch kleine Einhörner, Drachen und Erdtrolle. Sogar ein paar kleine Hexen flogen auf Besen durch diesen Zaubergarten, in dem sich an jeder Ecke ein neues, unerwartetes Bild ergab. Ganz klar: ihr Garten.

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Wie gut dieser Garten zu meinem Mädchen passt! Sie ist die mit den Geschichten im Kopf, die immer eine Tür zu einer fantastischen Welt finden konnte. Das erinnert mich in vielem an mich als Kind, wenngleich wir auch in vielem ganz unterschiedlich sind. Aber ich weiß noch, dass ich, wenn wir verreisten oder mit dem Auto irgendwo unterwegs waren, den Orten, die am Fenster an mir vorbeiflogen, Geschichten und Menschen zuwies. Ich sah Leute draußen und dachte mir aus, wer sie wohl wären und was sie für geheime Leben führten. Ich sah ein verlassenes Gehöft und stellte mir ein Abenteuer dort vor. Ich fand eine Muschel am Strand und war im nächsten Moment in einer Meereswelt abgetaucht. So ähnlich ist es mit meinem Herzensmädchen auch.

Oft schon hat mich diese Art an meine Grenzen gebracht, zum Beispiel, wenn sie sich viel lieber wegträumte, als mit mir das Einmaleins zu lernen. Oder wenn sie so gefangen war von einem Buch, einem Spiel oder einer Geschichte, in der sie gerade steckte, um den Draht zu den profanen Dingen zu finden, mit denen wir anderen und gerade so beschäftigten: die schnöden Alltagsdinge eben. Aber wie herrlich sind immer ihre Geschichten gewesen, die sie sich ausgedacht und ihren kleinen Geschwistern erzählt hat! Wie wunderbar war es, ihr beim Spielen zu zu schauen, wenn sie mit einer Freundin, ihrem Bruder oder auch alleine ganze Szenarien aus Schleichtieren, Playmobil, bunten Steinen und Stöcken im Garten aufbaute – eine fantastische Welt, in der alles möglich war. Und sie gehörte ganz ihr.

Aber der verwunschene wilde Garten, durch den sie mich führte, ist auch ein Sinnbild für ihr wildes und verwunschenes Denken und Fühlen. So sortiert der Bub es immer braucht(e), so sehr war dieses verschlungene ihr Zufluchtsort. Das war und ist nicht immer ganz leicht für sie. Und für uns.

Heutzutage ist der Garten nicht mehr ganz so wild. Oder besser gesagt: die Kontrolle über den Garten gelingt ihr besser. Sie ist noch immer voller schöner Ideen und hat eine großartige, reiche Phantasie, aber das ist nicht mehr ihr Hauptaufenthaltsort. Sie ist groß und kann ihren Fokus besser finden und auf die Dinge richten, die gerade dran sind. Dafür braucht sie meistens nicht mal mehr mich als Unterstützung.

Gärten als Sinnbilder: Kleine Persönlichkeiten

Von meinem Goldkind hatte ich nie einen Gartentraum, aber wenn ich einen Garten für sie wählen könnte, wäre er lieblich. Es wüchsen duftende Kletterrosen dort an warmen Natursteinmauern empor, blaublühender Lavendel und aromatische Rosmarinhecken stünden dort und es gäbe eine Blütenpracht in allen Farben. Für das Goldkind ist die Welt intensiv und unmittelbar, es gibt eine große Heiterkeit und Freude in ihr und die Dinge sind meist gut ausbalanciert. Ihr Garten wäre ein Ort der Schönheit und Ausgewogenheit und würde einladen zu Bleiben, Ausruhen, Bei-sich-sein. 

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Ich mag die Idee von Gärten als Sinnbilder für kleine Persönlichkeiten, für die typischen Merkmale in den Seelen und Charakteren meiner Kinder, und ich bin dankbar, dass ich diese Bilder gefunden habe.

Natürlich sind meine Kinder viel mehr. Auch kleine Persönlichkeiten sind vielschichtig und nicht so klischeehaft, wie sie mir im Traum vorkamen. Aber die Gartenträume haben mir viel darüber gesagt, wie ich meine Kinder sehe und dienen mir immer wieder als Abgleich, wenn ich mir anschaue, wie sie sich entwickeln, verändern, entfalten, modifizieren. Kleine Persönlichkeiten bleiben nämlich nicht immer klein – sie werden größer und mit ihnen ihre typischen Charakterzüge.

Aber die Gartenbilder, die Seelenträume über meine Kinder behalte ich im Herzen und weiß: das ist ein Teil von ihnen. Das ist in ihnen und hat immer noch Bestand, auch wenn es nur ein Ansatzpunkt dafür ist, sie zu begreifen als die Personen die sie sind.

Welche Gärten passen zu euren Kindern? Und kennt ihr solche seltsam intensiven Träume, die so eine große Bedeutung zu haben scheinen?

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3 Kommentare

  1. Was für ein schöner Artikel! Danke dafür.

    Ganz spontan sind mir die Gärten meiner beiden Jungs eingekommen:

    der des 13 jährigen ist wohl ein Fußballplatz mitten im Pfälzerwald,

    und der fast 10 jährige wohnt in einem verworrenen Dschungel dessen Wege ein mathematisches Labyrint sind *g*.

     

    LG

    Eve

  2. So ein schöner Beitrag Anna Luz de León und wie schön, wenn Kinder sich einen eigenen Garten schaffen! Ich durfte das auch als Kind – aber noch lieber war ich draussen im Wald unterwegs.

    Ich werde jetzt noch ein wenig bei Dir weiter lesen – ich sehe schon, bei Dir gibt es sehr viel Schönes und Interessantes zu entdecken!

    Viele Grüße von Renate

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