Liebe kleine Mama,

eben saßen wir zusammen und sahen deinem Baby beim Spielen zu, wie so oft in den letzten zehn Tagen. Mir gehen so viele Dinge durch den Kopf, wenn ich euch zusammen sehe und mir wurde klar, es wird wieder Zeit für einen neuen Brief an dich, einen Brief an eine Mutter, wie ich schon einige geschrieben habe – inspiriert durch dich und dein Kind.

Dein Baby ist kein Baby mehr, so viel ist uns beiden klar, auch wenn wir es immer noch "Baby" nennen. Es ist ein Kind. Ein Kleinstkind von 17 Monaten, ein wunderbarer, leidenschaftlicher Wirbelwind, der durch das Haus fegt und alles und alle mitreißt. Es ist dein Sohn, der jetzt läuft, am Tisch mit isst, erste Worte spricht und sich überhaupt sehr vielfältig ausdrückt. 

Ich beobachte fasziniert, wie er sich wieder verändert hat, seit ich euch im Juli zuletzt gesehen hatte und stelle fest, dass ich fast vergessen hatte, wie es ist, ein so kleines Menschenkind im Haus zu haben. Jemanden, dessen kleiner Geist noch nichts weiß von Regeln oder Beschränkungen, von Gefahren und von den Gefühlen anderer. Er ist so sehr er selbst, dass es mir fast die Tränen in die Augen treibt, wenn ich ihn beobachte.

Aber ich sehe auch dich und um dich geht es mir in diesem Brief an eine Mutter. Du machst das so wundervoll! Da ich dich immer nur in Abständen sehe, ist das immer wieder berührend und bedeutsam für mich, dich in dieser Rolle zu sehen: als Mutter. Schon als ich euch das erste Mal zusammen sah, dein Baby war noch keine drei Wochen alt, sah ich das Team. Ich sah, wie gut ihr zueinander passtet, ich sah die Verbindung und ich sah die Liebe, die euch einhüllte und die wie eine kleine Sonne um euch herum schien. So wunderbar! Und so ist es geblieben. Vielleicht ist es sogar noch stärker, weil die Unsicherheit der ersten Wochen vorbei ist: ihr kennt euch jetzt, ihr kennt euch zutiefst und das gibt euch Boden.

Dennoch gibt es immer wieder Neues im Leben mit deinem Kind, ich weiß das, ich sehe das täglich mit meinen Kindern, auch wenn in diesem Alter die Veränderungen nicht mehr immer sofort so deutlich zu sehen sind, wie in den frühen Jahren. Und ich sehe, dass die Veränderungen dich natürlicherweise bewegen. Du schwankst zwischen Begeisterung und Irritation und schaust aufgeregt und bisweilen ängstlich auf dein Kind, ob es wohl auch in Ordnung ist. Ob es ihm gut geht, natürlich. Ob es sich gut entwickelt und alles hat, was es dafür braucht.

Du machst dir Gedanken, weil dein Sohn so wild ist. "Glaubst du, das wird besser? Woher hat er das?" Ich sage dir: er hat das aus sich. Nicht von seinem Papa, nicht von seiner Mama. Ihr habt das nicht hervorgerufen oder ihm vererbt. Du hast nichts gemacht, dass das verursacht. Und es ist auch nichts, was "besser" werden muss, denn es gehört zu ihm. Er ist voller Leben, voller Begeisterung und voller neuer Erfahrungen, die er mitteilen will. Er kann jetzt laufen! Wie toll ist das denn?! Er läuft und rennt und stolpert und fällt nicht, dann strahlt er und plappert frenetisch und rennt wieder, hin und her und so schnell er kann. Weil er es kann! Er ist begeistert von dieser Fähigkeit und deshalb lebt er sie aus, so sehr er nur kann. Und das ist wunderbar. Er ist wunderbar, genauso wie er ist. Und ich weiß, dass du das auch findest. Ich sehe es in deinen Augen, wenn du ihm zuschaust, wie er sich an seinen neugewonnen Fähigkeiten erfreut. Ich sehe es in deinem Blick, wenn du ihn liebevoll anschaust und dich mit ihm freust und seine neuen Fähigkeiten ebenso feierst, wie er.

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Du machst dir Gedanken, weil dein Sohn so ungestüm ist. "Er merkt nicht, dass er mir weh tut, wenn er so nach mir greift und mich an sich presst und küsst und dabei kneift. Oder?" Nein, er merkt das nicht. Er weiß nicht, dass seine ungestüme Liebe, die er mit nassen Küssen zeigt und die er dir (und mir und den anderen Kindern) ins Gesicht drückt, während die scharfen Nägelchen sich in deine Wangen bohren, vielleicht weh tut. Er weiß gar nicht, dass er das verursachen könnte: Schmerzen. Er weiß über Schmerzen nur, dass sie auftauchen können und dass sie besser werden, wenn du ihn tröstest und wiegst, zum Beispiel beim Zahndurchbruch oder wenn er mal stürzt. Und wenn du seine Hand fest hältst und sagst, nein, das tut mir weh, dann lacht er, weil er denkt, das sei ein Spiel. Aber ich sage dir, es sagt nichts über seine Persönlichkeit aus, dass er in einer seiner begeisterten Liebesbekundungen seine Zähnchen in deine Schulter gräbt. Nicht, dass du ihm nicht sagen oder zeigen sollst, dass so etwas weh tut – natürlich tust du das. Aber er beißt nicht, weil er jemand ist, der anderen gerne weh tut. Er beißt in dem Moment, weil er einem stürmischen Liebesgefühl nachgibt und noch nicht gelernt hat, das anders auszudrücken. Er ist voller Begeisterung und Zuneigung und wirft seine Ärmchen um deinen Hals und freut sich, dass er dich so nah bei sich hat und möchte dich am liebsten fressen vor lauter Liebe…! Als Erwachsene sagen wir das ab und zu, um genau dieses Gefühl auszudrücken. Er gibt dem Impuls nach, weil er es noch nicht besser weiß. Über seine Persönlichkeit sagt das vor allem aus, dass er vor Begeisterung überschäumend ist.

Du schaust ihn an und fragst dich, wieso dein kleiner Sohn so zornig werden kann. "Wo kommt der Zorn her? Wo kommt dieser große Zorn her?" fragst du, während er sich auf alle Viere fallen lässt und beleidigt brüllt, weil du ihn nicht hast sein Essen auf den Boden werfen lassen. Ich sage dir, der Zorn kommt aus der Erkenntnis, dass sein Selbstbestimmung eine Grenze hat. Der Zorn kommt aus der Tatsache, dass du, seine geliebte Mama, die immer mit und um ihn ist, mit der er sich Eins fühlt, seinem Willen nicht nachgibst, indem du ihn hinderst, seine ganze Mahlzeit auf den Boden zu werfen, einfach so. Das heißt nicht, dass er einen Grundzorn in sich hat. Es heißt nicht, dass in ihm ein geheimnisvolles destruktives Gefühl wächst und lauert, um unerwartet auszubrechen. Es bedeutet nur, dass er frustriert ist, wenn er an Grenzen stößt – ein Gefühl, das er mit wahrscheinlich allen Menschen auf diesem Planeten teilt.

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Wir schauen ihm zu, wie er redet, nickt, zeigt, durch die Bude kollert, die Treppen hinauf und wieder hinunter steigt, wie er fröhlich isst, eifrig spielt, Aufgaben meistert und jeden Tag etwas Neues an Fähigkeiten entfaltet. Ich sehe in deinem Umgang mit ihm, wie sehr du ihn liebst, wie fasziniert du von diesem kleinen Menschenkind bist und davon, wie es sich entwickelt. Dein Herz hüpft, wenn er glücklich ist und es schmerzt, wenn er weint. Du strahlst mit ihm um die Wette, wenn ihm etwas Neues gelingt und du bist mit ihm traurig, wenn seine Welt von etwas erschüttert wird. Du öffnest deine Arme, wenn er, müde gespielt, zur Ruhe kommen möchte und du trägst ihn und gibst ihm den Ort, den er braucht, um loszulassen, sich ganz zu entspannen, in Sicherheit zu sein und sich zu erholen von dieser aufregenden Welt.

Er ist kein Baby mehr und seine kleine Persönlichkeit entfaltet sich mehr und mehr. Er zeigt dir jeden Tag ein Stückchen mehr von seinem leidenschaftlichen, wunderbaren Wesen und du fühlst, dass es ein Geschenk ist, ihm bei seiner Entwicklung zu zu schauen, ihn zu begleiten und seine kleinen Wege mit ihm zu gehen. Ich wünsche dir: genieß dein Kind, genieß es, wie er dir zeigt, wer er ist. Koste die Momente aus, in denen er sich mit all seinem Tun an dich wendet und dich einbezieht in sein Werden. Bleib genau die Mama für ihn, die du die ganze Zeit schon bist: zugewandt, voller Liebe und Staunen, mit geöffneten Armen und wachen Sinnen, um all seine Bedürfnisse zu spüren und zu beantworten.

Ihr beide seid das Team, von Anfang an. Und ihr seid wundervoll, genauso wie ihr seid.

signatur

 

13 Kommentare

  1. Danke, dass du diesen Brief teilst! Als wäre er genau für mich und meine Situation geschrieben worden.  Unser kleiner Wirbelwind ist ganz schön fordernd und das ist auch schön. Ihn immer im Zaum zu halten, die Person zu sein, an der er sich spiegelt und all seine tollen und anstrengenden Launen auslässt, das auszuhalten ist manchmal sehr schwer (wie wir ja alle wissen). Deshalb tut so eine Erinnerung, es zu genießen, weil man liebt und sein ganzheitliches Werden begleitet, gerade echt gut!

    Ich habe Tränen in den Augen <3 <3 <3

  2. Franziska Handmann Antworten

    Was für ein schöner Text! Vielen, vielen Dank! 

    Liebe Grüße Franziska 

  3. ein toller brief. ich wünschte, mir hätte und würde jemand solche briege schreiben. aber ich nehm ihn mir einfach und schreib meinen namen drüber. ja? danke!

  4. Ein wunderschöner Brief! Ich liebe deine Art zu schreiben! Ganz großes Talent,ganz wunderschön. Danke

  5. DAnke für den Brief! Ich habe mich auch so gefühlt mit meinem "Großen" und jetzt in der Schule ist es zwar anders, aber er ist halt er ist halt er ist halt er. Schön das zu lesen! Verena

  6. Pingback: Friday Fives – soeurdefeo

  7. Pingback: Vernetzt im November 2016 | Mama hat jetzt keine Zeit…

  8. Hallo Anna,

    als frischgebackener Papa kann ich deine Gefühle wunderbar nachvollziehen :)

    Viele Grüße aus Friedrichshain

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