Es ist Montag früh. Ich stehe in meiner Küche und mache Kaffee für den Mann und mich und mische Saft und Wasser für die Kinder. Im Toaster bräunen drei Scheiben Vollkorntoast und eins nach dem anderen torkeln die müden Schulkinder die Treppe herunter und lassen sich auf ihre Plätze am Tresen fallen, wo sie immer frühstücken. Das Radio dudelt, der Kaffee duftet und ich lasse meinen Blick aus dem Fenster auf die kleine Grünfläche vor dem Haus schweifen – da sehe ich sie.

Auf der Parkbank, nur zwanzig Meter von meinem Küchenfenster entfernt, liegt eine Frau. Sie hat sich in eine große rotkarierte Wolldecke eingewickelt und schläft, den Kopf auf ihrer Tasche. Ihre Sandalen stehen fein säuberlich unter der Bank und unter ihren Füßen hat sie eine weitere Tasche eingerollt. "Da liegt jemand", kommentiert der Mann ganz richtig, als er Milch in die Kaffeebecher gießt und mir einen reicht. Die Kinder werden munter und gehen an die Balkontür, die ebenfalls auf die Grünfläche zeigt.

"Ja, da liegt jemand. Eine Frau!" "Warum liegt die da, Mama? Ist der nicht kalt?" "Meinst du, sie hat ihren Schlüssel vergessen? Aber warum ruft sie nicht den Schlüsseldienst?" "Meinst du, sie ist auch eine Mama? Oder eher eine Tochter…?"

Für einen Moment stehen wir alle am Fenster und schauen auf die schlafende Gestalt wenige Meter von unserem Haus entfernt. Mir geht viel durch den Kopf. Früher, als wir noch im Friedrichshain gewohnt haben, war das kein ungewöhnlicher Anblick. Auf dem Grünstreifen in der Mitte der Straße, in der wir wohnten, gab es immer viele Trinkgelage, manchmal die ganze Nacht über. Die Nähe zu einem Späti auf der anderen Straßenseite hat das Ganze wahrscheinlich noch begünstigt, schließlich gab es da immer Nachschub. Und am nächsten Morgen lagen dann oft Menschen auf den Parkbänken, die ihren Rausch ausschliefen. Mein Herzensmädchen war erst drei Jahre alt, als wir dort wegzogen, sie erinnert sich nicht mehr. Aber schon damals fragte sie mich oft nach den Leuten, die dort schliefen. Warum das so wäre, fragte sie. Und ob sie kein Zuhause hätten.

Jetzt sind die Fragen wieder da und ich beantworte sie, so gut ich kann. Aber natürlich w e i ß ich nicht, warum diese Frau da geschlafen hat oder was die Umstände sind, die dazu geführt haben. Wir beenden unser Frühstück, die Kinder putzen Zähne und packen ihre Brotdosen in die Schulranzen und ich überlege, was ich tun kann. Unsere Nachbarn hier sind allesamt sehr nett, aber ich bin mir plötzlich nicht sicher, dass nicht eine oder einer von ihnen trotzdem auf die Idee kommt, diese Frau, die bestimmt eine angenehmere Nacht hätte haben können, einfach wegzuschicken. Und je länger ich auf sie schaue, wie sie da liegt und schläft, desto weniger möchte ich abwarten, dass jemand anderes aus der Nachbarschaft etwas unternimmt. Ich möchte etwas für sie tun. Etwas, das ihr ein Gefühl von Normalität gibt, vielleicht sogar ein bisschen Würde.

Die Kinder und der Mann verlassen das Haus Richtung Bushaltestelle und ich gehe zurück in die Küche, wo ich die Frühstückstrümmer beseitige. Immer wieder schaue ich aus dem Fenster. Die Frau wacht auf. Ich sehe, dass sie Zahnpasta und eine Zahnbürste aus ihrer Tasche holt und sich mit dem Tau aus der Wiese die Augen "wäscht". Sie bürstet sich die Haare und steckt sie hoch, und sie faltet die Decke zusammen, unter der sie geschlafen hat. Dann geht sie einige Schritte auf dem Rasen hin und her, dehnt und streckt sich, hält sich den Rücken, dehnt sich wieder.

Ich koche einen frischen Kaffe und gebe ihn mit Milch und Zucker in einen bunten Becher. Ich wasche Erdbeeren, Brombeeren und Himbeeren und mache eine Marmeladenbrot. Das Brot packe ich in eine Papiertüte, die Beeren kommen in eine kleine Schüssel, dann stelle ich alles zusammen mit dem Kaffee auf ein Tablett, schlüpfe in meine Schuhe und stecke den Hausschlüssel ein. Mit wenigen Schritten bin ich bei der Frau auf der Parkbank und bringe ihr Frühstück. "Guten Morgen", sage ich zu ihr, "wie wäre es mit Frühstück?" Sie schaut mich an, ihre Augen werden groß und sie – lächelt. Sie bedankt sich und fängt an, den Kaffee zu trinken. Dann erzählt sie. Von ihrem Ex-Mann, der mit den Kindern weggefahren sei, von ihrem Lebensgefährten, der nicht in der Stadt sei, von der neuen Wohnung, zu der sie den Schlüssel vergessen habe, davon, wie sie nicht am Bahnhof hatte übernachten wollen. Und dann sagt sie: "Ich habe mich an diese Straße erinnert, als ich in der Nähe war. Hier habe ich mit meinen Kindern mal im Sandkasten gespielt und wir haben ein Picknick auf der Wiese gemacht. Ich dachte, hier ist es ein bisschen ruhiger. Und die Nachbarn… achten aufeinander. Ein besserer Ort zum Übernachten als der Bahnhof." Sie nickt und isst ein paar von den Beeren. Ich sage sowas wie, ja, die Nachbarschaft sei nett. Dann erzählt sie mir noch von einer dementen Großmutter, von einem Filmproduzenten und davon, dass sie gleich ein Casting habe und sich noch die Nägel machen müsste. Sie deutet auf die Bank und da stehen tatsächlich fein säuberlich aufgereiht: Nagellackentferner, roter Nagellack, ein Set mit Feilen und Scheren.

Der Kaffee ist ausgetrunken und sie gibt mir den Becher zurück. Wie ich heiße, fragt sie mich. Anna. Sie nickt wieder und lächelt. "Danke, Anna. Hab einen schönen Tag." Ich lächele zurück und sage, den wünsche ich ihr auch. Dann gehe ich mit dem leeren Kaffeebecher zurück ins Haus.

Gänseblümchen pflücken, Leben mit Kindern, Dankbarkeit, Menschsein, Helfen, Obdachlose, die Welt retten, make the world a better place,

Zurück in mein ordentliches, ziemlich sicheres, behütetes Leben, in dem es keine unfreiwilligen Nächte auf Parkbänken gibt, keine Exmänner, die mit Kindern einfach wegfahren, keine angsteinflößenden Unwägbarkeiten, keine wehmütigen Erinnerungen an bessere, glücklichere Tage, die einem das Herz schwer machen. Und ich denke darüber nach, dass jeder von uns in Umstände geraten kann, die zu einer Nacht auf der Parkbank führen. Oder zu mehreren. Dass sich das niemand aussucht und dass wir alle mehr oder weniger auf das Wohlwollen unserer Mitmenschen angewiesen sind. Dass ich mir wünschen würde, dass jemand mir Kaffee brächte, wenn ich auf der Parkbank läge, ich oder der Mann oder eins meiner Kinder. Und dass ich, Anna, nichts tun kann, um die große Welt da draußen besser zu machen. Nichts gegen Amokläufer und nichts gegen Menschen, die andere töten wollen wegen ihres Glaubens, ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe oder ihrer Religion, nichts gegen Diktatoren und Fanatiker, nichts gegen die Dummheit und Ignoranz der Menschheit, nichts gegen all das da draußen, das uns unsere Welt mitunter so furchtbar erscheinen lässt.

Aber ich kann die Welt im Kleinen besser machen. Ich kann einen Unterschied machen für diese Frau auf der Parkbank, für die Geflüchteten unter meinem Dach oder für den Obdachlosen, der immer vor dem Rewe steht und dem ich immer Hundefutter und was vom Bäcker mitbringe, wenn ich dort einkaufe. Und ich kann mit diesem Verhalten für meine Kinder ein Vorbild sein. Nicht nur im moralischen, menschlichen oder gar christlichen Sinn, sondern auch, indem ich ihnen zeige, dass sie immer etwas besser machen können und dass sie i m m e r die Möglichkeit haben, die Welt zu verändern. Und wenn es nur für einen einzigen Menschen ist, für einen kleinen Augenblick.

Ich glaube fest daran, dass kleine Momente wie diese große Auswirkungen haben können. Und dass kleine liebevolle Gesten, mit denen wir die Einsamkeit, die Hoffnungslosigkeit oder die Angst anderer Menschen durchbrechen, etwas verändern. Ich hoffe, dass diese Frau auf der Parkbank mich nicht vergisst. Den Kaffee nicht vergisst, das Marmeladenbrot, die Beeren. Und dass sie vielleicht irgendwann mal für jemand anderen die Welt für einen Augenblick besser macht, egal wie.

Ich schaue wieder aus dem Küchenfenster und sehe, wie sie sich die Nägel macht. Zehn Minuten später ist sie weg. Die Schüssel, in der die Beeren waren, steht auf der Bank. Als ich sie am Nachmittag hereinhole, liegt ein kleines Kränzchen aus Gänseblümchen darin.

Passt aufeinander auf.

signatur

13 Kommentare

  1. Anna, du bist ein wundervoller Mensch. Eine ganz feine Seele und ein ganz außerordentliches Herz. Ich habe noch keinen deiner Beiträge gelesen, in dem dies nicht zu spüren war. Es tut gut. So gut, Menschen wie dich auf unserer Welt zu wissen! 

  2. So wunderbar geschrieben und so wahr und zu später Stunde muss ich jetzt noch ein paar Worte hier schreiben…denn das darf man nicht ohne kommentieren weiterklicken…deinen wunderbaren Moment der Menschlichkeit…das sind sie die Minuten warum wir hier sind…um unseren Kindern immer wieder vor Augen zu halten, dass es diesen Unterschied gibt…das man sich entscheidet fürs HINSCHAUEN oder WEITERGEHEN…danke liebste Anna, ich drück dich und wünsch dir und deinen Lieben einen wunderbaren Sommerlotterlebenstart ab morgen…dicken Kuss…und bis ganz bald…liebste Grüsse aus dem Süden…deine i…

  3. Wie schön, dass es auch andere gibt, die einfach die Welt im Kleinen ein bisschen besser machen! Oft werde ich schief angeschaut, wenn ich mich engagiere, das bringe alles nichts… Und doch, ich sehe es wie Du, es bringt immer etwas. Danke!

    Liebste Grüße

    Janna

  4. Pingback: #freitags5 – Strand, Eis und Twitter goes real life | motherbirthblog

  5. Du wundervoller Mensch der du bist, ich könnte dich  umarmen für dein so großes Herz. ❤️

  6. Wieder mal ein ganz wundervoller Text der mir die Tränen in die Augen treibt! 

  7. Pingback: Machs gut mein Juli – wheelymum

  8. Pingback: Machs gut mein Juli -

  9. Sooooo schön – und so selten. Herzberührt und lieb. Großartig. Für ein DANKE. Was viel mehr Wert hat wie viele Geldscheine dieser Welt.

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