Heute frage ich euch nichts, heute habe ich keine Listen, Tipps oder Alltagsanekdoten für euch. Heute erzähle ich euch eine Miniaturgeschichte, zeige euch Erinnerungsfotos und teile ein Gefühl mit euch, von dem ich nicht weiß, ob es jemand nachvollziehen kann oder wie andere Menschen es nennen: ich nenne es Heimwehwetter.

“Dies ist der Herbst: der – bricht dir noch das Herz!” (Nietzsche, Im deutschen November)

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Herbst. Ich weiß, alle lieben diese Jahreszeit. Jeden September, jedes Jahr wieder, fangen um mich herum die Menschen an, den nahenden Herbst zu bejubelen und sich laut darauf zu freuen. Und ich stehe dann da, nicke und horche in mich hinein, und ich weiß, was ich jedes Jahr wieder erlebe: ich bin auch eine von denen, die den Herbst lieben, aber meine Herbstliebe ist eine schmerzliche, meine Freude über die noch warmen Septembertage und den blaugoldenen Oktober hat auch eine kleine, aber scharfe Kante, die mir das immer spürbare leise Weh verursacht – im Herbst.

Und dann kommt es, das Heimwehwetter. Ich kann gar nicht sagen, was es auslöst. Ist es das Licht, das immer weniger wird, jeden Tag ein bisschen? Und sind es die wunderbaren Herbstfarben, die gerade in diesem kostbaren Licht so besonders leuchten, als wollten all die bunten Blätter noch mal so richtig zeigen, was sie drauf haben, bevor sie zu Boden fallen und sterben? Ist es dieses Gefühl, sich wieder mehr nach “innen” zu orientieren, sowohl im täglichen Leben, wo man kürzere Zeitspannen draußen verbringt, einfach weil es früher dunkel und auch ungemütlich kalt wird, als auch mit sich selbst: mehr Zeit im Dunkeln, mehr Zeit am Feuer im Kamin, mehr Zeit alleine und mit der Kernfamilie, als mit viele Freunden im Garten beim Grillen oder auf Reisen, wo täglich neue Reize ein abenteuerlustiges Herz fluten?

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Heimwehwetter, das ist die Summe aus all dem: der Wind, der kommt und die Blätter vor sich hertreibt. Der wilde Wein überall, der sich im Prozess des Verfärbens so dramatisch aufführt, wie fast keine andere heimische Pflanze hier in der Stadt. Ja, auch das Licht und auch die Musik, auch die dicken Schals und Stiefel und die häufiger werdenden Feuer im Kamin und draußen in der Feuerschale. Der Geruch nach genau diesen Feuern, gemischt mit dem nach feuchtem Laub und Kastanien, glänzend und frisch aus ihrer Stachelschale gelöst. Gedichte. Seltenere Sonnenstrahlen auf den prächtigen Farben überall. Die Zeit der schwarzen Vögel, die ihre Kreise am kalten Himmel ziehen, während die anderen alle gen Süden ziehen. All das macht es aus: Heimwehwetter.

Heimwehwetter ist es, wenn diese Stimmung meine schönen Erinnerungen heraufbeschwört und zugleich eine Sehnsucht auslöst nach Menschen, Orten, Erlebnissen, die unwiderruflich vergangen sind. Unwiederholbar. Verloren. Weil es die Orte nicht mehr gibt oder sie gänzlich verändert sind. Weil es die Menschen nicht mehr gibt, mit denen die Erinnerungen verbunden sind, entweder, weil sie schon gestorben sind oder weil die Bindung sich verändert hat. Manche Wege zurück sind auch ungangbar, weil zu viel geschehen ist, das sich nicht löschen oder umkehren lässt.

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Das Heimwehwetter lässt Bilder aus meiner Kindheit in mir aufsteigen, vom Nüssesammeln in einem Garten, der schon vor Jahren bebaut wurde. Es zeigt mir die Gesichter meiner geliebten Großeltern, die vor Jahren gestorben sind. Es ruft mir das Gefühl zurück, das ich als kleines Mädchen auf der Schaukel am Apfelbaum hatte, auf der ich mich hoch hinauf schwingen und laut singen konnte. Die Schaukel ist lange abgenommen, der Baum wurde gefällt. Das Heimwehwetter zeigt mir die Wege durch die Streuobstwiesen, wo die alten Bäumchen voller Äpfel und Birnen hingen. Da bin ich als Kind gegangen, als junges Mädchen, als Erwachsene mit meinen eigenen Kindern und immer – mit meiner Mutter.

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Heimwehwetter, Goldkind, Asterstein, Oktober 2010, Äpf

Das Heimwehwetter schickt mich in Gedanken auf diesen einen Weg, den es noch gibt, wenn auch leicht verändert. Und obwohl ich über 600km weit weg bin von dort, brauche ich nur die Augen zu schließen und ich bin wieder da. Das Haus gehört uns nicht mehr, ein Teil der Obstwiesen ist bebaut worden, aber den Weg gibt es noch, den einen Nussbaum gibt es noch, den Blick auf meine Heimatstadt gibt es noch, wenn man den Weg bis nach oben weitergeht. Ich bin ihn 2010 zuletzt gegangen, im letzten goldenen Oktober, den ich mit den Kindern in ihren Ferien bei meiner Mutter verbrachte. Bevor das Jahr kam, das alles verändert hat. Dort gingen wir und redeten und sammelten Nüsse und Äpfel auf und pflückten Hagebutten, die wir zu Hause auf den Tisch stellten. Wir waren glücklich und wussten es. Der Oktober 2010 war ein Abgesang auf dieses Glück – das wussten wir nicht. Das Heimwehwetter zeigt mir dieses Glück und schenkt mir den Geruch und Geschmack dieser Tage für kurze Momente noch einmal. Ich glaube, ich kann nie wieder dorthin zurück.

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Heimwehwetter, Sehnsucht, Asterstein, Spaziergang, Oktober 2010

Die schönsten Erinnerungen, die traurigste Sehnsucht, die größte Unerreichbarkeit. Das geht Hand in Hand im Herbst, beim Heimwehwetter. “Dies ist der Herbst: der – bricht dir noch das Herz.” Ich bin dankbar für die Erinnerungen, auch wenn sie schmerzen. Ich bin dankbar für die Gewissheit, dass es dieses Glück gab in meinem Leben und dass ich es in mir trage, wenn ich auch nicht dorthin zurück kann.

“Your joy is your sorrow unmasked.
And the selfsame well from which your laughter rises was oftentimes filled with your tears.
And how else can it be?
The deeper that sorrow carves into your being, the more joy you can contain.” (Khalil Gibran)

signatur

 

14 Comments

  1. Eine Träne, noch eine, noch eine….für deine Geschichte, die vermulich genau dein Gefühl bei mir erzeugen konnte. Ein Aufruf, das Jetzt zu genießen. Danke!

  2. Oh ist das ein schöner Artikel. Und endlich habe ich ein Wort für dieses Gefühl. Jedes Jahr im Herbst geht es mir genauso. Gedanken an Plätze und Menschen, die nicht mehr da sind. Glänzende Kastanien in der Hand und manchmal Tränen in den Augen. Danke, danke für deine Bilder und Worte

  3. Herbstgefühle und Sehnsüchte in wunderbare Worte gefasst! Danke für diesen besonders schönen Text!

  4. ich bin gerührt!
    unabhängig von dem, was du im herbst spürst, weil da diese leere und gleichzeitig schönen erinnerungen sind, glaube ich dass diesen “herbstblues” viele kennen. ich auch und bei mir entsteht dann meist ein fernweh. ab in die sonne!
    ich glaube es liegt, bei aller schönheit des bunten herbstes schlichtweg an zu wenig sonn, bei mir
    glg
    stefanie

  5. Jetzt fliessen sie nur so, die Traenen. Ein schoener Text, der mich ganz tief getroffen hat…. danke.

  6. Du bist eine große Schreiberin!
    Ich bin ein herbstfreund, ich spüre das tiefste Glück der Erde bei klassischem herbstwetter. Ich könnte platzen. Die Seele weint mir dann, wenn es dunkel wird und kalt. Leider schon eine gute Woche, dass es hier so duster ist, innen und außen.

  7. Minkakatinka Reply

    Hallo, schon lange lese ich hier mit, selten schreibe ich was, aber zu diesem Text muss ich mich äußern, da er genau das Gefühl trifft, dass ich nach meinem Geburtstag Mitte September immer bekomme. Ich nenne es für mich sehnsuchts-Heimweh. Nach Personen die uns vorausgegangen sind, Orten die es nicht mehr (so) gibt und nach meinen ehemaligen Pferden die über die Regenbogenbrücke gegangen sind. Alles diese Gedanken verbunden mit der Gewissheit, dass alles dennoch gut und richtig ist, das hier und jetzt. Viele Grüße Katrin

  8. Ich liebe es einfach immer wieder, wie du schreibst! Ich (emp)finde mich ständig in deinen Zeilen wieder! Ich werde wohl dieses Sehnsuchtsgefühl jetzt auch erfahren…dieses spezielle!
    Ich danke dir, dass ich bei dir lesen kann, was ich (noch) nicht so in Worte fassen kann.

  9. Ach Anna, jetzt sitze ich hier mit Gänsehaut, Tränen in den Augen und frage mich, wie es – wieder einmal – sein kann, dass Du GENAU DAS in Worte fasst, was mich gerade so bewegt.
    Ja, ja und nochmal ja! Das alles ist mir so unheimlich vertraut, dass es schon weh tut. Seit Tagen bin ich nur am grübeln, hole alte Fotos hervor und denke an alte Begebenheit, die sehr sehr schön waren, aber nicht mehr nachgeholt werden können.

    Heimwehwetter…so schön Du bist, so schmerzlich bist Du auch.

  10. Hallo Anna,
    Frag nicht wie ich Dich gefunden habe, irgendwie über tausend Umwege…..und dann lese ich direkt diese Heimweh-Worte! Tief ins Herz…… Diese Tage kenne ich nur allzu gut! Manchmal wünsche ich mich zurück, auch wenn es nur in Gedanken ist!
    Ich hab mich mal direkt über g+ eingetragen, damit ich nix mehr verpasse ;-)
    Wünsche Dir ein schönes WE mit vielen schönen Erinnerungen,
    Moni

  11. Pingback: 4 Blogartikel, die mein Herz wirklich berührt haben! - ReisemeistereiReisemeisterei

  12. Dein Text berührt mich sehr, denn ich bin auch an diesem Ort aufgewachsen und habe auf den gleichen Feldern gespielt, Äpfel und Birnen von den Bäumen geschlagen, Nüsse gesammelt, Kürbisse vom Feld mit nach Hause genommen. Der Herbst erinnert mich immer, immer an diese Zeit in meiner Kindheit. Die Mischung aus Herbstwind, Freiheit, Geborgenheit, der Duft von Walnussschalen, feuchter Erde … Dein Text bringt das alles zurück. Sehnsucht, Melancholie, Dankbarkeit, Heimatsgefühle.

  13. Oh Anna, ich wusste schon beim Titel, dass du mich heute wieder zum Weinen bringst!

    Heimwehwetter beschreibt so gut, was auch ich jeden Oktober fühle, dieses Zurückerinnern und auch -wünschen, in eine Zeit, als alles noch unbeschwert war und mein Papa noch da war. Ich war ein echtes Papakind.

    Du triffst soo oft genau die richtigen Worte, und auch wenn ich hier jetzt heulend sitze, danke, liebe Anna, genau für diese Worte!

    Alles Liebe,

    Katharina

    • Ich schick dir eine feste Umarmung, liebe Katharina. Wir wissen noch mehr, was unser Leben reich macht, wenn wir auch wissen, was wir verloren haben, oder? Alles Liebe!

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