Lieschen

Seit sie denken konnte, hatte ihre Großmutter diese kleinen weichen Hände, ganz schmal und blaugeädert. Sie erinnert sich daran, wie sie sonntags mittags nach dem Essen auf ihren Schoß kletterte und die Hände betrachtete. Sie spielte dieses Spiel mit ihr: sie umfasste die Handgelenke der Großmutter mit ihren eigenen Händchen, hob sie in die Höhe und hielt sie einige Augenblicke dort fest. Nahm sie sie dann herunter, war das Blut aus den Adern auf dem Handrücken der Großmutter gewichen und die Haut war wundersam geglättet. Bis es nach einem Moment zurückkehrte und die Adern wieder anschwollen und sichtbar wurden. Es war ein Ritual, das unweigerlich auf das Mittagessen folgte.

Sie erinnert sich an die Hände ihrer Großmutter, wie sie ihr einen Kranz aus Gänseblümchen flochten, wie sie aus einem Taschentuch eine Maus knoteten, wie sie still gefaltet in ihrem Schoß ruhten. Als Kind entdeckte sie eines Tages, dass die Daumen ihrer Großmutter besonders waren, faltig, von Schnitten durchfurcht, die Haut dünn wie Papier, aber rosig und so weich, wie Seide. Sie erinnert sich daran, wie sie am Knie ihrer Großmutter lehnte und mit ihren Fingerspitzen über den Daumen strich, immer über die Kuppe, immer über dieselbe Stelle, begeistert von dem Gefühl der Nachgiebigkeit.

Jetzt wollen die Finger immerzu fliehen. Sie hält sie zwischen ihren Händen und spürt die Unruhe. Wenn sie sie für Augenblicke loslässt, beginnen sie, über die Bettdecke zu wandern und die Zipfel des Lakens umzuschlagen, ganz kleine Ecken, immer wieder. Einmal umschlagen, drüberstreichen, wieder umschlagen. Hör auf zu falten, Liebchen, sagt eine der Töchter dann und fängt die Hände wieder ein. Aber sobald sich die Gelegenheit bietet, nehmen sie das Wandern und Umschlagen wieder auf. Die Großmutter blickt auf und lächelt, wenn sie unterbrochen wird, aber sie lässt sich nicht abbringen.

Sie blickt auf die schmalen bleichen Finger in ihrer Hand. Es ist, als wären sie auf ihre Essenz reduziert durch die Zeit. Sie spürt sie warm in ihrer Handfläche, und sie greifen nach ihren Fingern, aber sie haben kein Gewicht mehr. Sie fragt sich, ob sich der Körper ihrer Großmutter noch erinnert an die neunzig Jahre seiner Existenz, ob die Hände noch wissen, dass sie ein Leben lang gearbeitet haben, dass sie vier Kinder und sieben Enkelkinder gestreichelt und gehalten haben, Äpfel zerschnitten und mit Zucker bestreut, Zöpfe geflochten und Schuhe zugebunden.

Der Großvater weiß noch alles. Er sitzt neben seiner Frau und spricht mit ihr. Wenn sie fragt, wo ihr Geld sei, hat er für diesen Zweck Bargeld in einer Schublade, das er ihr geben kann, damit sie beruhigt ist. Später, wenn sie wieder in sich versunken ist, legt er die Scheine zurück bis zum nächsten Mal.

Er wacht über ihre Mahlzeiten und über ihren Schlaf, er erzählt ihr noch immer von seinen täglichen Spaziergängen und Telefonaten, von Töchtern und Enkeln, von Nachbarn und Bekannten. Manchmal erkennt sie die Menschen um sich herum. Manchmal macht sie auch scherzhafte Bemerkungen, dann lacht er und wiederholt, was sie gesagt hat. Er erinnert sich.

Sie sieht, dass auch der Großvater alt und faltig und nachgiebig geworden ist, wie die Haut an den Händen der Großmutter, aber er dreht sich um den einen Mittelpunkt. Er erinnert sich.

Die Geschichten ihrer Großmutter sind nur noch Geschichten. Früher hat sie sie oft erzählt, immer etwas dazu gedichtet, eine Besonderheit, einen Witz, eine Pointe. Sie konnte sich an alle auffälligen und skurrilen Menschen aus ihrer Kindheit erinnern und ahmte sie nach, ihre Sprache, ihren Gang, ihre immer gleichen Sätze. Sie war ein komödiantisches Talent.

Jetzt sind nur noch die Geschichten da, sie kann sie nicht mehr lebendig machen, sie kann sie nicht mehr erzählen. Sie erinnert sich nicht mehr. Wenn sie die unruhigen Hände ihrer Großmutter hält, denkt sie darüber nach, was mit den Geschichten passieren wird. Eines Tages wird sie keiner mehr kennen. Sie werden nach und nach verstummen, so wie die Großmutter immer weniger wurde in den letzten Jahren, ganz allmählich.

Wenn sie zu Besuch kommt, begrüßt sie zuerst den Großvater. Er strahlt und tätschelt ihre Wange, was machst du denn hier, als hätte er nicht vorher gewusst, dass sie kommen würde. Er steht in der Tür und streckt eine Hand nach ihr aus, die andere hält er zur Faust geballt vor der Brust. Wenn sie ihn umarmt, kommt er ihr unglaublich fest und lebendig vor, aber wenn er die Tür zum Wohnzimmer öffnet, wo an der Stelle des Sofas seit einigen Monaten das Bett der Großmutter steht, sieht sie, wie klein er geworden ist. Sie geht zum Bett und betrachtet die schlafende Gestalt, der Großvater bleibt auf der Schwelle stehen und lächelt, sagt: sie hat mal anständig gegessen heute Mittag, jetzt lasse ich sie noch ein bisschen schlafen. Auf Zehenspitzen verlässt sie das Wohnzimmer und folgt ihm in die Küche.

Früher war es anders. Als sie ein Kind war, verbrachten sie alle Sonntage bei den Großeltern, aber in ihrer Erinnerung waren das vor allem Sonntage bei der Großmutter. Die Großmutter war diejenige, die sie auf den Schoß nahm und ihnen Geschichten erzählte, die die unvergleichlichen Johannisbeerbonbons von süßer Schwärze an sie verteilte und den Traubensaft, den es zu Hause nie gab; sie putzte ihnen die Nasen und blies auf aufgeschürfte Knie, sie erzählte ihnen Geschichten und beantwortete ihre Fragen.

Sie sieht sie in ihrer Küche sitzen und Kartoffeln schälen, eine Schürze umgebunden. Sie sieht sie über die Wiese gehen und die Arme ausbreiten, damit sie sich hineinwerfen kann. Sie sieht sie die Tür öffnen und lächeln.

Jetzt sitzt der Großvater in der Küche und redet, während sie warten, bis der Kaffee fertig ist. Seit das Bett der Großmutter im Wohnzimmer steht, wird in der Küche Kaffee getrunken. Er berichtet von seiner Woche, von den Essens- und Schlafgewohnheiten der Großmutter. Er schläft inzwischen allein im ersten Stock, immer nur auf seiner Hälfte des Bettes, während sie unten hinter einem hochgeklappten Gitter liegt, damit sie nicht alleine aufsteht und hinfällt. Die Treppe kann sie schon lange nicht mehr gehen, auch nicht, wenn jemand sie stützt.

Es ist Sonntag, das Haus füllt sich mit Töchtern und Enkeln, und der Großvater sitzt am Tisch. Sie fragt sich, wie er die Veränderungen empfindet. Ob sie ihn schmerzen. Ob sie ihn an das Vergangene erinnern. Ob er seine Frau vermisst. Er ist einfach da, an genau dem Ort, an dem er immer war. Sie sieht ihn an und lächelt. Er ist der zähe kleine, warme und vitale Kern des Lebens, das hier stattfindet. Er ist noch da.

Zum Kaffeetrinken wird die Großmutter geweckt. Sie wird schwer wach, als könne sie sich kaum aus dem Zustand des Schlafens losreißen, als wäre das Aufwachen und zu sich kommen eine ungeheure Anstrengung. Sie sieht sie mit den staunenden Augen eines Kindes an, während ihre Hände rastlos auf der Decke zu wandern beginnen. Eine Tochter steht am Bett, hilft ihr, sich aufzusetzen und nimmt sie in die Arme. Wer bin ich, fragt sie. Und die Großmutter lächelt erkennend und antwortet: Schätzchen. Diese Gesichter sind ihr vertraut, an die Namen erinnert sie sich nicht mehr.

An manchen Tagen kann sie das Bett kaum verlassen. An manchen Tagen geht sie am Arm ihres Mannes von der Küche bis auf den Balkon – das sind die guten Tage, sie hatte lange keinen mehr. An manchen Tagen spricht sie gar nicht, an anderen nennt sie Menschen und Gegenstände beim Namen – oft sind es nicht die richtigen.

Sie sitzen auf der Bettkante, rechts und links von ihr. Sie legen ihre Arme um den kleinen Leib und sprechen mit ihr. Die Großmutter hält still und lehnt sich an die Körper der Töchter, lässt sich die Haare kämmen. Am Kaffeetisch will sie nicht essen, jedenfalls nicht so viel, wie der Großvater es möchte. Er protestiert, und sie dreht den Kopf weg und verschließt die Lippen fest. Manchmal findet sie für Augenblicke zur Sprache zurück, dann wehrt sie sich und sagt deutlich: ich will nicht.

Der Großvater ist fassungslos und kann nicht einsehen, wieso sie nicht, nein: was genau sie nicht will. Die Töchter versuchen zu erklären, eine hält die Hand der Großmutter, aber er versteht nicht. Er dreht sein Gesicht zum Fenster, schiebt mit einem Ruck seinen leeren Teller von sich und stützt die verschränkten Arme auf den Tisch, Mundwinkel nach unten. Er schweigt.

Sie betrachtet ihn und denkt, seine Regeln sind so klar und simpel, und er kann nicht begreifen, wieso diese Regeln plötzlich aufgehoben sind. Wer isst, lebt. So einfach ist das. Und wenn sie nicht essen will, was bedeutet das dann? Sie fragt sich, ob der Großvater diesen Schluss ebenfalls zieht, oder ob er sich vor diesem Gedanken schützt. Sie gießt ihm Kaffee nach, und er schnappt: Wer hat dir gesagt, dass ich noch was will?

An dem Tag, an dem die Großmutter stirbt, ist es kalt. Ihr Bruder ruft sie an und erzählt ihr davon. Sie setzt sich ins Auto und fährt über die Autobahn, sie redet nicht, sie singt kein Lied. Als sie ankommt, sind alle schon da. Sie umarmt sie: den Ehemann, die Kinder, die Enkelkinder; der Großvater weint bei ihrem Anblick, wie er es ab jetzt immer tun wird, wenn sie ihn besucht. Er hustet und hält die Faust vor die Brust, und beim Luftholen quellen die Tränen hervor und die Seufzer. Darüber hinaus ist er stumm.

Mit ihrer Schwester geht sie ins Zimmer der Großmutter, sie treten an ihr Bett. Jemand hat eine Kerze angezündet, draußen ist es schon dunkel. Sie reden leise miteinander, der Bruder kommt dazu und legt die Arme um sie beide. Sie erzählen sich Geschichten von der Großmutter und erinnern sich. Sie betrachten den kleinen Leib, die gefalteten Hände, die jetzt nicht mehr über die Decke wandern, die Nase, die deutlicher hervorspringt als im Leben.

Bevor der Leichenbestatter den Sarg schließt, kommen alle herein. Die Töchter küssen der Großmutter die Stirn, jemand kann den Großvater davon abhalten, ein Foto zu machen. Sie glaubt, ihn sagen zu hören: bis bald.

Sie streckt die Hand aus und berührt den Daumen der Großmutter, immer noch weich, ganz weich und kühl.

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Heute lasse ich euch eine Geschichte über die Liebe zwischen meinen Großeltern hier, die ich vor vielen Jahren geschrieben habe und die mir jetzt als sehr passend wieder einfiel. Sie ist bisher unveröffentlicht, und ich freue mich, dass sie genau hier und jetzt von mir geteilt wird, denn sie gehört zu den Geschichten über die Liebe, die ich unbedingt erzählen möchte. Über 60 Jahre waren meine mütterlichen Großeltern verheiratet, bis zum Schluss war es Liebe, die auf dem Weg viele Formen angenommen hat. Das, was ich hier beschreibe, war ihre letzte irdische Form. Mein Großvater starb sechs Jahre nach seiner Frau. Ich bin sicher, sie sind seitdem wieder zusammen.

8 Comments

  1. Liebe Anna,
    was für eine wunderschöne, tiefgehende, berührende Geschichte! Man spürt die Liebe deiner Großeltern, man spürt auch deine Liebe zu deiner Großmutter und die ihrer Töchter.
    Tausend Dank fürs Teilen!

  2. Mein Herz weint. Ich hatte gestern mit meiner 12 jährigen Tochter das Gespräch, ob es besser ist, Menschen und Haustiere ins Herz zu lassen und das Risiko einzugehen, deshalb Schmerzen zu haben oder nicht. Liebe ist das Thema, immer.
    ❤️

    • Das ist wirklich ein schwieriges Thema mit den Kindern, oder? Man will sie einerseits ermutigen, sich emotional berühren zu lassen, sich auf andere einzulassen, sich zu binden. Andererseits ist die Angst vor dem Schmerz ja total realistisch. Das wird zu 100% im Laufe eines Lebens passieren, dass wir verletzt werden, weil wir andere in unser Herz gelassen haben, sei es durch einen Vertrauensbruch oder durch eine Trennung oder den Tod. Es lässt sich nicht verhindern. Und ich glaube dennoch – Liebe ist die Antwort.

  3. Solch ein wunderschöner und berührender Text! Vielen Dank, dass du uns daran teilhaben lässt!
    Man kann die tiefen Emotionen wirklich spüren! Zu Tränen gerührt, ob dieser beschriebenen tiefen Verbindung!

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