Ich und der Herbst, das war mal Liebe. Kaum zu glauben.
Früher war der September mein Lieblingsmonat. Ich liebte es, gebräunt aus dem Sommerurlaub zurück zu sein, ins neue Schuljahr oder später Semester zu starten, all die Sommergeschichten im Gepäck und so viel, um es mit in den neuen Alltag zu nehmen. Ich liebte es, dass es langsam kühler wurde, die Abende aber noch warm genug waren, um draußen zu sitzen. Dabei die ersten Feuer anzuzünden und gleichzeitig Kerzen auf dem Gartentisch. Nachts auf dem Balkon in meinem Elternhaus zu sitzen und mit meiner Freundin zu rauchen und in die Sterne zu gucken.
Der September war der Monat, in dem die Sommerlässigkeit und all das Licht noch in mir nachglühten. Ich fühlte mich aufgeladen, so als hätte ich alle Kraft und Energie der Welt. Als wäre der Sommer in den vorhergegangenen Wochen unter meine Haut gekrochen und hätte sie nicht nur dunkler getönt, sondern mich ganz und gar zu einem Sonnenkörper gemacht, der alle Wärme absorbiert hat. Dazu bestimmt, den ganzen Herbst und Winter über weiter zu glühen und wie ein Licht- und Wärmespeicher all die Leichtigkeit weiterzutragen. Ich konnte davon leben, bis im Frühling die Sonne wiederkam. Es machte mir keine Angst, dass die dunkle Jahreszeit vor der Tür stand.
Die leichte Wehmut im September, die den Abschied vom Sommer vorankündigte, machte mir nichts aus. Ich konnte sie genießen, vielleicht sogar ein bisschen zelebrieren, mit herbstlich gestimmten Playlisten bzw früher Mixtapes (ja, sowas machte man in den 90ern noch) und Herbstlyrik. Ich hatte Lieblingsgedichtbände mit Herbstgedichten, die ich gerne wieder und wieder las, viele konnte ich auswendig. Als ich noch so jung war, machte mir die Schwere dieser Texte nichts aus. Sie gingen zwar tief, aber sie taten mir nicht weh. Noch nicht.
Und dann, wenn der September vorbei war und der Oktober anklopfte, war ich innerlich auch da. Ich war bereit. Angekommen am endgültigen Ende des Sommers und reif für bunte Blätter, duftende Erntefeuer auf den Feldern meiner Heimatstadt, Kerzenschein in Innenräumen und Spaziergänge durch raschelndes Laub. Das, was Instagram und Social Media allgemein heutzutage zu einer Art Herbstkitschtrend gemacht haben, war in meinen Teenager- und jungen Erwachsenenjahren einfach nur – Herbst. Stiefel, Wollschals und gigantisch gefärbte Abendhimmel, Schalen voller selbstgeernteter Nüsse, Kaminfeuer und Laternenzeit. Halloween wurde damals so gut wie nicht gefeiert, dafür sah und hörte ich nostalgisch gestimmt den Martinsumzügen in meiner Heimatstadt zu, wenn im November dann St. Martin gekommen war. Es war nichts Schlimmes, nichts Düsteres daran, in meiner Erinnerung.
Irgendwann in den letzten Jahren änderte sich das. Schon der September machte mir zu schaffen, dem Oktober konnte ich all sein Gold nicht mehr danken, meine Sommerleichtigkeit verflüchtigte sich immer schneller und immer früher. Und im November konnte ich gefühlt nur noch den Kopf einziehen.
Hat es also doch was mit dem Alter zu tun? Musste ich drei Kinder kriegen und meine Mutter beerdigen, um zu begreifen, was die Herbstmetapher in vielen Gedichten wirklich meint? Das Ende eines lebendigen hellen Sommers, das Sterben der Natur als Metapher für den Abschied vom Leben an sich? Ich weiß nicht, wann das genau passiert ist, wann genau da eine Art Erkenntnisprozess einsetzte, aber heutzutage lese ich Herbstlyrik nicht mehr mit so einem leichten Herzen. Sie geht tief, wie schon früher in meinem lyrikverbundenen Leben. Aber seit einigen Jahren (10? 12?) kann sie mitunter sogar schmerzlich sein.
Der September ist der Abgesang auf den Sommer. Und offenbar ist es die Lebenserfahrung oder eben mein Alter oder beides zusammen, die dazu führen, dass mich diese Erkenntnis melancholisch macht. Ich und der Herbst, wir sind nicht mehr die sorglosen Freunde von früher. Aber vielleicht werden wir es wieder?