Diese Tage sind wundervoll. Endlich ist Sommer in Berlin und die Stadt zeigt sich von ihrer ganz und gar zauberhaften Seite. Und ich folge meinen Kindern durch ihre Sommerfreuden: frozen yogurt essen und dabei ausprobieren, wie groß die Portion sein darf, die man essen kann, ohne dass man Bauchschmerzen bekommt. Auf dem Wasserspielplatz in Klamotten durch die Fontäne rennen und dabei laut kreischen, weil es so großartig kalt ist. Im hellsten Sonnenschein mit beiden Füßen voran auf dem Lieblingsspielplatz aufs Trampolin springen, dass die Zöpfe nur so fliegen. Auf dem Balkon Picknick machen und lauter Sommerköstlichkeiten in sich hinein stopfen, die es nur jetzt so gibt: reife Tomaten, kalte Wassermelone aus dem Kühlschrank, Radieschen, die zwischen den Zähnen knacken, wenn man hineinbeißt und natürlich die süßen Erdbeeren. Abends auf der Wiese liegen und zuhören, wie die Nachbarskinder Klarinette üben und dabei Geschichten erzählen, bis es langsam immer dunkler wird.

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Bei vielen dieser Dinge bin ich nur die Zuschauerin. Ich bin dabei, ich organisiere alles, ich ermögliche, dass sie passieren. Aber ich hüpfe nicht selbst mit Klamotten in die Wasserfontäne, ich springe nicht aufs Trampolin und ich beiße nicht mutwillig fest in eine Tomate, damit die Kerne in alle Richtungen spritzen, nur um zu sehen, ob das funktioniert.

Aber ich könnte. Ich denke seit Tagen darüber nach, dass meine Kinder es richtig machen und ich erinnere mich an die Sommer meiner Kindheit, die ich hauptsächlich mit aufgeschlagenen Knien und in Knautschlackhosen auf Bäumen verbracht habe, mit einem Marmeladenglas voller Grashüpfer in der Hand, über das ich zerlöcherte Frischhaltefolie gespannt hatte. Was für eine wunderbare und verzauberte Zeit das war und wie sehr ich alle Tage, Stunden, Augenblicke auskosten konnte.

Wieso kann ich das nicht mehr? Ich möchte etwas davon zurück haben, mich nicht nur an das Gefühl erinnere, sondern wieder mehr davon erleben: das auf-den-Baum-klettern-Gefühl, das mit-beiden-Füßen-in-die-Pfütze-springen-Gefühl, das nachts-im-Garten-schlafen-Gefühl. Und meine Kinder sollen meine Lehrmeister*innen sein.

Das hier sind in etwa die Carpe Diem-Regeln für jeden Tag, die ich mir von ihnen abgeschaut habe. Was ich von meinen Kindern lerne in fünf einfachen Lektionen:

1. Sei im Augenblick, sei JETZT.

Es gibt viele schöne und ebenso viele dunkle Augenblicke jeden Tag. Wenn ich meine Kinder anschaue und sehe, wie sehr sie die jeweilige Situation, in der sie sich gerade befinden, annehmen und sich ihr anvertrauen, als käme danach nichts anderes mehr, bin ich immer wieder tief beeindruckt. Das möchte ich auch können! Und im Umgang mit meinen Kindern gelingt mir das oft. Alles, was wir im Alltag miteinander tun, wird schöner, macht glücklicher und stärker, wenn wir es bewusst miteinander tun: gemeinsam kochen und essen ohne Ablenkung, uns auf Dinge freuen, die wir zusammen tun werden, ein Buch nehmen, zusammen darin lesen und die Wäsche Wäsche sein lassen, singen in der Badewanne und die Taucherbrillen dort ausprobieren, ohne auf die Uhr zu schauen. Lektionen für mein Leben, Erinnerungen für das Leben meiner Kinder, die mich überdauern werden.

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2. Sei bei dir, sei DU.

(Meine) Kinder sind oft entwaffnend ehrlich und sagen, was sie denken. Sie äußern Skepsis, Begeisterung, Freude und Ängste unmittelbar und ohne Zensur. Ich kenne kaum andere Menschen, die so sehr sie selbst sind, wie meine Kinder. Je kleiner sie sind, umso deutlicher ist es zu sehen: diese kleinen Personen sind vollkommen DA, weil sie vollkommen bei sich sind und nicht auf die Idee kämen, das zu tarnen oder sich zu verstellen. Sie sind echt. Ich versuche das immer und hoffe, es gelingt mir zumindest im Umgang mit den Menschen um mich herum, denn wer sollte ich sonst sein, wenn nicht ich? Aber zeige ich das immer? Habe ich nicht viel zu oft Angst, nicht schlau, nicht witzig, nicht stark, nicht schön, nicht gut genug zu sein und meine, ich müsste über mein Ich noch ein Mäntelchen aus “besser” legen, das mich schützen soll? In Wirklichkeit ist es genau anders herum. Ich habe für mich die Erfahrung gemacht, dass ich am besten bin in allem, was ich tue, wenn ich so echt wie möglich bin und zeige, wer ich bin. Das habe ich von meinen Kindern gelernt.

3. Gefühle sind Gold aus deiner Seele, lass sie zu.

Unsere Kinder sind die Held*innen unserer Lieblingsmomente am Tag: wenn sie lachen, möchten wir in dieses Geräusch hinein tauchen und etwas davon abhaben, wenn sie weinen, sind wir bestürzt und fasziniert von der Heftigkeit ihrer Gefühle, aber wir würden vielleicht auch gern mal wieder so hemmungslos heulen können wie sie. Selbst sich entladende Wut ist beeindruckend, denn sie ist so echt und unmittelbar, wie wir Erwachsene kaum noch etwas ausdrücken. Ich weine nicht gerne, ich sehe mich lieber als frohen Menschen, der gerne lächelt. Aber meine Tränen sind auch wichtig, das stelle ich immer wieder fest, und meine Wut hat auch ein Recht, adressiert zu werden. So wie meine Kinder möchte ich meine Gefühle zeigen und mich daran erinnern, dass diese Gefühle es sind, die mich zu der Person machen, die ich bin. Was ich von meinen Kindern lerne, ist hier die schlichte Tatsache, dass der Ausdruck meiner Gefühle zeigt, wer ich bin. Ich zeige, wer ich bin, indem ich zeige, was ich fühle.

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4. Sprich was du denkst.

“Wenn das so ist, bist du nicht mehr meine Freundin!” spricht das Goldkind und lässt ihre traurige Isa stehen, die ihr doch eigentlich immer eine der Liebsten ist. Ich frage sie, warum sie so etwas Gemeines sagt und kriege zur Antwort, dass Isa sie nun mal so geärgert habe und es selber Schuld sei. “Aber Schatz, zanken ist doch normal, bald vertragt ihr euch wieder und alles ist wieder gut. Deshalb bist du doch trotzdem noch Isas Freundin.” Da wirft sie ein bisschen hilflos die Hände in die Luft und sagt: “Ja, das stimmt schon! Ich weiß auch nicht, warum mein Körper der Meinung war, dass ich sowas sagen soll!” Mein Körper ist auch oft der Meinung, ich solle etwas sagen, was ich dann doch nicht sage. Und ich meine nicht nur die sprichwörtliche “Wut im Bauch”, die mal raus muss oder die Tränen, von denen ich oben sprach, sondern auch die schönen Dinge. Oder die unbequemen. Warum nicht mal jemandem einfach so sagen, dass man ihn gern hat? Oder einen Menschen fragen, warum er etwas sagt/tut, das andere so verletzt? Und warum nicht einer Lieblingserzieherin sagen, dass sie einen tollen Job macht? Oder der Nachbarin zurufen, dass sie echt toll aussieht in ihrem neuen Kleid? Wenn ich es doch denke, kann ich es auch sagen, oder? Mein Körper ist dieser Meinung, mein Verstand kommt ihm oft in die Quere – das ist nicht immer die bessere Stimme.

5. Tu, was du fühlst.

Wenn ihnen nach Jauchzen und Rennen ist, tun sie es. Wenn ihnen danach ist, ihre Schuhe auszuziehen, um die Zehen in einen Brunnen oder eine Matschpfütze zu stecken, tun sie es. Wenn sie sich alleine fühlen nachts in ihren Betten, stehen sie auf, kommen zu mir und legen sich in meinen Arm und wenn sie sauer aufeinander sind, flippen sie kräftig aus. Sie sind so unmittelbar, in dem was sie tun – das ist herrlich. Schon mal probiert, mit Socken in die Wanne zu gehen? Das macht man nicht? Doch, findet der Lieblingsbub und versuchte es einfach mal. Sand essen ist eklig? Ja, das sagt man. Aber wenn man es nicht probiert, wird man es nie wissen. Meine Kinder gehen ihren Einfällen nach und leben ihre Gefühle aus, in ihren Freiräumen tun sie das fast immer ohne Filter und ich stehe daneben und staune. Denn das ist es, was wir Erwachsene nicht mehr können: spontanen Ideen folgen, leidenschaftlich den Augenblick erleben, einfach tun, wonach uns ist, auch wenn man das nicht tut. In uns sind gesellschaftliche Normen und die Regeln und Zwänge des Alltags übermächtig. Unsere Kinder gehen einfach los und tun die Dinge. Ist das nicht beneidenswert? Was ich von meinen Kindern lerne, ist hier die Unmittelbarkeit: tun, was sie fühlen, genau dann, wenn sie es fühlen.

Ich weiß, ich bin kein Kind mehr. Ich hatte diese Zeit und sie war wunderbar, aber sie ist vorbei. Jetzt, als Mutter meiner Kinder ist meine Rolle eine andere: ich bin die Erwachsene, ich bin die, die den Rahmen vorgibt und ich bin die Orientierung auf all den Entdeckungsreisen und kleinen Abenteuern des Alltags, die meine Kinder erleben. Aber ein bisschen davon ist gut für mich. Ein bisschen mehr von diesem Carpe Diem-Gefühl eines Kindes tut mir gut, wenn die Zwänge, die Regeln, die vielen ich-muss-nochs mich einschnüren und mich binden. Dann ist es schön, von einem Siebenjährigen an die Hand genommen zu werden, der einfach mit Socken in die Wanne steigt. Oder mit einer Fünfjährigen darüber zu reden, wo sie war, bevor sie zu mir kam. Oder mit einer Elfjährigen auf der Wiese zu liegen und sich vorzustellen, man wäre jemand anders und das ganze Leben würde Kopf stehen.

Was ich von meinen Kindern lerne? Dass ein bisschen davon uns allen ab und zu gut tut. Findet ihr nicht? Passt auf euch auf und springt mal wieder in ne Pfütze!

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13 Comments

  1. Hachz, schön! Ich bin am ersten heißen Tag mit meinem 4jährigen durch den Rasensprenger gerannt. Hab mich gefühlt wie ein Kind und wir haben soooo gelacht.

    Punkt Nr. 4 find ich auch super. Mach ich auch öfter, leider können viele Menschen damit nicht so gut umgehen. Ein Kompliment annehmen ist schwierig für manche.

    Schöner Text, danke dafür! :)

    Liebe Grüße
    Marisa

  2. So schön geschrieben und wirklich wahr!!!!
    Du hast so recht und ich musste ein paar Tränen der Rührung vergießen, als ich Deinen Text gelesen habe ♥ Bin auch oft zu beschäftigt, damit was alles noch aufgeräumt werden muss usw….
    Finde es auch beneidenswert wie ehrlich und echt unsere 3 Jungs sind. Sie sind 5,3 und 1 .
    Versuche es auch mal wieder in die Pfütze zu springen :-D

    Ein schönes Wochenende und viel Spaß :-)

    Liebe Grüße Melanie

  3. Herrlich…. Ich hab Tränen in den Augen. Weil es so wahr ist, weil es so schön ist und weil ich traurig bin das auch mir so viel von dieser Spontanität abhanden gekommen ist. Und wenn es bei mir mal wieder durchbricht, rollt meine 12-jährige mit den Augen und spricht “boah Mama, lass das. Is ja voll peinlich.” Damit ist mein Anfall von Spontanität so schnell vorbei wie er gekommen ist. Und manchmal denke ich dann, wo oder wann hat mein Kind seine Fähigkeit dazu verloren? Danke für diesen schönen Text. Ich geh dann mal und bringe meiner Tochter das wieder bei…..auch wenn’s peinlich ist. ;-) Habt alle ein schönes Wochenende!

    Liebe Grüße
    Manu

    • Hi Manu,
      laß Deiner 12-jährigen mal das Augen-rollen und Peinlichkeitsgefühl. Das geht vorbei. Wichtig ist, daß DU bei DIR bist. Einem (Fast-) Teenager sowas “wieder beizubringen” ist absolut aussichtslos und verbraucht mehr Kraft als es Nutzen hat.

      Ich wünsche Dir ein spontan-geschwängertes Wochenende
      Gabriela

  4. Hi Anna,

    Dein Text ist sehr schön – und am besten gefallen mir die letzten 2 Absätze. Denn es ist nunmal (leider) so, daß wir ERWACHSEN sind. Die Zauberwelt, die Sorglosigkeit, Spontanität und immer-sagen-was-wir-denken gehört den Kindern. Und das ist gut so. Stell Dir vor, alle Erwachsenen wären wieder wie die Kinder. Das kann nicht funktionieren. Schon gar nicht in der heutigen Welt.
    ABER: ich bin vollkommen bei Dir, daß wir uns an den Mäuseln orientieren sollten. Wir sollten uns nicht zu schade sein, authentisch zu sein. Die Dinge, die wir tun und sagen, sollten für unsere Kinder transparent sein und beflügelnd wirken. Es ist wie bei allem: die Dosis macht das Gift.
    Bei mir steht die Bügelwäsche auch schon 5 Wochen – na und? Wacklzähne, Babybrei, Kinder-Gekicher und Fahrten im Sonnenschein am Fluß sind mir wichtiger!

    Liebe Grüße und ein zauberhaftes Wochenende!
    Gabriela

  5. In Hamburg schüttet es aus Eimern. Aber meine Kinder und ich haben das Beste gemacht, was bei diesem Wetter geht. *Pfützen hüpfen* Jetzt stehen die klatschnassen Damen glücklich und zufrieden unter der Dusche und singen und Mama kocht Tee und macht Popcorn :-)
    Hab ein schönes Wochenende,
    Christiane

  6. das ist eine tollsten sachen am kinder haben: wieder ein bisschen selbst kind zu sein. ich erinnere mich, wie ich vor einem Jahr mit meiner einjährigen hüpfend und jauchzend in der brandung im Meer stand. und dann (nachdem ich sie an den papa abgegeben hatte) mich selbst jauchzend in die brandung und wellen stürzte wie eine 11-jährige.
    ich versuche deshalb auch meiner tochter jenen kram zu ermöglichen, den wir als kinder nie durften: auf betten springen, auf mama/papa reiten, laut singen in der Öffentlichkeit, sich richtig dreckig machen ….

  7. Hi Anna,

    wunderschön, ich bin auch zu Tränen gerührt. Kinder sind wirklich ein so großartiges Geschenk. Ich hab vor allem gelernt im Augenblick zu leben. Dein Text inspiriert mich dazu, mehr das zu tun, wonach mir gerade ist und mich nicht zu beschränken.

    Danke und liebe Grüße
    Mascha

  8. nicht nur ich hatte nen bissl pipi in den Augen. Toll wie du das geschrieben hast. aber auch die anderen Berichte. hat mir sehr geholfen. öieben Dank

  9. Pingback: was ich von meinen kindern lerne ::: 5 carpe diem-regeln für jeden tag | CookingPlanet

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