Im Zusammenleben mit Kindern ist  das oft DER tröstende Satz: "Es ist alles nur eine Phase!" Aber irgendwann kommt mal der Punkt in jedem Mutterleben, an dem wir genau diesen Glaubenssatz in Frage stellen. Nach meiner persönlichen Erfahrung kommt der Punkt auch mehrfach. Und bei jedem weitern Kind ist es etwas anderes, das den Zweifel an der Wahrheit dieses Satzes hochspült. Am Dramatischsten habe ich das wohl mit dem Lieblingsbub erlebt…

Der Lieblingsbub war noch nicht ganz zwei Jahre alt, da schien es, als wäre er plötzlich wie verwandelt. Mein sonniges Baby, das so unkompliziert schlief und wuchs, lachte und krabbelte, stillte und aß, war auf einmal vollkommen verändert. Hatte ich in den letzten zwei Jahren gedacht, ich hätte das jetzt raus mit diesem Muttersein und sein sich mühleloses Einfügen in unsere Familie sei zum Teil auch mein Verdienst, belehrte er mich jetzt eines Besseren. 

Er weinte viel. Es schien mir, als würde er jede Gelegenheit ergreifen, nur um zu weinen. Und alles wurde potentiell zum Problem. Saß er auf dem falschen Schoß: jammern und klagen. War das Essen zu warm oder zu kalt oder das Falsche: Verzweiflung! Hatte er zu kurz oder zu lang geschlafen: schluchzen. Lag der geliebte Esel auf der falschen Seite vom Kopfkissen: laute Trauer! Und diese Liste ließ sich endlos fortführen. Ich war wirklich ratlos. Denn natürlich taten wir alles, damit unser Sohn glücklich sein sollte. War er aber offenbar nicht. Und ich tröstete mich: es ist alles nur eine Phase. Es wird besser werden. Aber es dauerte an.

Alles nur eine Phase?

Was war passiert? Tatsache war, dass es neben den üblichen Entwicklungsschüben, die seine Welt veränderten, außerdem gravierende Veränderungen in unserem Familienleben gegeben hatte: seine kleine Schwester war geboren worden. Und eine weitere massive Veränderung war, dass er begonnen hatte, zu schielen und für mehrere Stunden am Tag im Wechsel seine kleinen Augen mit großen Pflastern abgeklebt werden mussten. Außerdem bekam er eine Brille mit einer Prismenfolie. Das alles war mir bewusst und sowohl ich als auch der Berlinmittedad taten unser Möglichstes, um diese einschneidenden Erlebnisse so angenehm wie möglich für unseren Sohn zu gestalten. Denn dieser war plötzlich unser Sensibelchen geworden, dessen zerbrechliche Gemütslage ständig kippen konnte. Und wenn das geschah, dann brach seine Welt zusammen. Es war nicht nur so, dass er einfach jammerte und sich beklagte und sich schnell hätte trösten lassen. Nein, er schien todunglücklich und durch nichts zu trösten zu sein. Und er weinte und weinte und weinte.

Ich war wirklich verzweifelt und fragte eines Tages, als ich nach einem aufreibenden Mittagessen mit gefühlt dauerweinendem Lieblingsbub erschöpft neben meiner Mutter auf die Picknickdecke im Garten sank unglücklich: "Was ist nur los mit meinem Kind? Er ist kreuzunglücklich! Ist das wirklich noch "alles nur eine Phase"? Er ist gar nicht mehr er selbst! Was soll ich nur tun?" Meine Hilflosigkeit machte mich irre und ich erlebte zum ersten Mal mit diesem Kind, dass ich Dinge einfach aushalten musste. Es fiel mir schwer, dachte ich doch immer daran, wie glücklich und unkompliziert er bisher stets gewesen war. Und: ich fühlte mich schuldig. Schließlich hatte ich die krasseste Veränderung in seinem kleinen Leben verursacht. Ich hatte seine Schwester in die Familie hineingeboren.

Da sagte meine Mutter den einen Satz, der mich in dieser Situation (und in noch vielen Situationen mit meinen Kindern seitdem) gerettet hat, weil er mir wirklich half, meine Perspektive zu verändern. Sie nahm meine Hand und sagte: "Du denkst die ganze Zeit an dein fröhliches Baby, zufrieden und unkompliziert. Und du kriegst das nicht zusammen mit dem unglücklichen Männlein, das dir auf einmal hochkompliziert erscheint. Aber es ist so: es ist beides in ihm. Das gehört zu ihm und das wirst du noch oft sehen im Zusammenleben mit deinem Sohn während der nächsten Jahre. Du musst das irgendwie annehmen. Er darf auch unglücklich, traurig, wütend, kompliziert und anstrengend sein. Aber du darfst auch nie vergessen, wie er in den letzen fast zwei Jahren seit seiner Geburt war, denn das ist der Kern seiner Person. Das ist sein kleines, fröhliches, unkompliziertes ICH, das ist sein innerer Plan. Und so wird er wieder sein. Hab Geduld und vertraue darauf." Ich fragte: "Also ist das wirklich alles nur eine Phase?" Und sie lachte und sagte: "Manche Phasen sind länger als andere, manche gehen und kommen wieder und manche sind so intensiv, dass sie dir endlos erscheinen, obwohl sie gar nicht lange dauern. Aber ja: es ist alles nur eine Phase. Und am Ende verdichtet sich das alles zu der Person, als die dein Kind angelegt ist. Komplex, vielschichtig, ganz. So wie wir es alle sind."

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Vertrauen in die Grundmelodie meines Kindes

Wie oft ich mir seitdem dieses Gespräch in Erinnerung gerufen habe, wie oft mir diese Sätze geholfen haben, die ich mir wie ein Mantra vorgesagt habe, kann ich gar nicht mehr zählen. Aber tatsächlich ist das seitdem zu einem meiner wichtigsten Grundsätze im Zusammenleben mit meinen Kindern geworden: egal, wie anstrengend es gerade ist, egal, wie sehr mich dieser kleine Mensch gerade an meine Grenzen bringt oder herausfordert, ich vertraue ihm und seinem inneren Plan. Ich weiß, das in meinem Kind dieser kleine, grundglückliche und vertrauensvolle Kern steckt und ich weiß, dass diese Grundmelodie seiner Persönlichkeit wieder zum Klingen kommen wird. Ich vertraue meinem Kind, ich vertraue dieser Grundmelodie und ich vertraue mir als Mutter, dass ich diese Melodie wieder hören und erkennen werde und nicht zulasse, dass meine Zweifel, Unsicherheiten und Ängste sich zu etwas formen, das diese Melodie übertönen könnte.

Es ist alles nur eine Phase. Das gilt auch für mich. Ich muss als Mutter aushalten lernen, wenn die Kinder mal nicht so "rund laufen". Wenn es Schwierigkeiten gibt, Probleme gar, wenn die Auseinandersetzungen häufiger zu sein scheinen, als die Momente harmonischen Miteinanderseins. Schließlich bin ich die Erwachsene, die mit der Verantwortung. Auch und vor allem für die gesunde Entwicklung der kleinen Persönlichkeiten, die mir anvertraut sind.

Ich mache bestimmt oft Dinge falsch. Ich schaue sicherlich oft zu ängstlich oder zu zweifelnd auf meine Kinder und frage mich, ob das alles so ok ist, was wir hier machen. Ich bin sicher oft zu streng und meine Erwartungshaltung ist vielleicht manches Mal zu hoch. Aber dieser Glaubenssatz hilft mir, mich wieder zu erden. Meine Kinder gehen durch die unterschiedlichsten Phasen ihrer Entwicklungen und ich gehe mit ihnen. Und irgendwie kommen wir alle immer wieder bei unserer eigenen, klangvollen und individuellen Grundmelodie an. Mal passen sie gut zusammen, mal sind sie gegenläufig und mal harmonieren nur bestimmte Abschnitte und andere nicht. Aber immer klingen wir: zusammen. Und so lange das so ist, ist irgendwie alles in Ordnung.

Habt ihr auch solche Mama-Mantras, die euch helfen, euch auf das Wesentliche im Zusammenleben mit euren Kindern zu besinnen?

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12 Kommentare

  1. Liebe Anna,

    vielen Dank für Deine weisen Worte, die heute mal wieder genau richtig kamen.

    Zwar habe ich eigentlich das Gefühl, daß es meinen beiden grundsätzlich gut geht, aber gerade bei der Großen sind manche "Phasen" länger als mein Geduldsfaden. Oft zweifel ich wohl zu schnell an meinen (und ihren) Fähigkeiten.

    Gerade im Moment machen wir uns viele Gedanken um sie und fragen uns, wie wir sie positiv unterstützen können.

    Vielleicht sollten wir einfach abwarten, bis ihre Melodie wieder im Takt ist und mit unserer harmoniert.

    (Und möglicherweise könnten wir auch selbst unsere Tonart anpassen?)

    Danke für Deine inspirierenden Gedanken, die ich jetzt mit ins Bett nehme.

    Liebe Grüße,

    ohmskine

  2. Vielen Dank für diesen wunderschönen Text, der mir gerade sehr hilft meine zwei großen Mädchen (Quengelbacke *2011 und Wutmonster *2012) besser zu verstehen. Seit der Geburt des kleinen Bruders vor drei Monaten hat sich vieles intensiviert – positiv wie negativ. Deine Gedanken verändern und erweitern die Perspektive auf die Kinder.

     

  3. Liebe Anna, 

    wie so oft lese ich bei dir und denke "Ach, wie wahr! Und wie entspannend." :-)

    Grundmelodie – dieses Wort finde ich absolut großartig! Vielen Dank dafür und liebe Grüße!

    Steffi

  4. MIr kommt das sehr bekannt vor. Denn genauso erging es  mir auch mit meinem mittleren Kind: fröhlich, unkompliziert und in sich selbst ruhend. Bis fast auf den Tag genau zum zweiten Geburtstag. Man konnte meinen Bauch schon gut sehen und es fing an danach zu fragen, was denn da drin sei.

    Ab da wurde es kompliziert. Und ich suchte die Ursache dafür in mir. Aber wie Du schreibst: Die Grundmelodie ist noch immer positiv. Aber es gibt eben auch andere Seiten die gehört und gesehen werden wollen.

    Liebe Grüße

    Suse

  5. Danke für diesen wunderschönen und berührenden Artikel. Ich brauch jetzt erstmal ein Taschentuch…Ich wünsche mir diese weisen Worte in meinen Alltag mit meinen Kindern mitnehmen zu können. Herzliche Grüße, Isabella

  6. Was für ein schöner Artikel, Anna. Am besten gefällt mir das Wort: Grundmelodie.
    Das werde ich mir merken.
    Wirklich komplizierte Phasen haben wir noch keine erlebt. Aber ich weiss, dass sie
    eines Tages kommen werden.
    LG Bine

  7. Ich weiß gar nicht so recht, ob das hier in diesen Artikel reinpasst, ich schreib schreibe es einfach mal hier rein. An dieser Stelle erst mal vielen Dank für die vielen wertvollen Informationen, die man in diesem Beitrag / Blog finden kann. Das Internet ist ja voll mit Informationen zum Thema Schwangerschaft bzw. Leben mit Kindern und leider lassen sich viele werdende oder gerade gewordene Mütter gerade beim ersten Kind total irre machen. Da ich selber einen Sohn habe, weiß ich nur zu gut, wie ein Kind das Leben schlagartig verändert, bzw. auf was man jetzt zusätzlich noch alles achten muss, gerade was das Leben in der Familie angeht. Wie gesagt, Daumen hoch für den Blogbetreiber / Blogbetreiberin, für die Zeit bzw. Arbeit, die hier investiert wird. Gerade wenn man Kinder hat, ist es schon ein Kunststück sich für sowas Zeit zu nehmen. Liebe Grüße

  8. Liebe Anna, deine Mama hat kluge Worte gesagt. Vor allem, dass das Kind auch mal nicht glücklich sein darf. Diese Erkenntnis hilft auch mir weiter und ich kann sehr gut nachvollziehen wie es sich anfühlt, wenn das Kind trotz allem todunglücklich ist. Mehr noch – ich habe auch mit Schreck erleben müssen, dass meine Vierjährige sich explizit den Tod herbeiwünschte. Dabei haben wir doch alles in unserer Macht getan, um ihre Kindheit schön zu gestalten. Und ich wusste doch, dass sie im Grunde ein sehr stabiles, fröhliches und leicht zu begeisterndes Kind ist. Und weisst Du, was mir noch hilft? Das kam mit einem Schlag – ich, wahrscheinlich wie alle Eltern, wünsche mir unbewusst, dass meine Kinder nur die besten Eigenschaften von uns geerbt haben. Sportlichkeit von Papa, analytisches Denken vom Mama usw. Ich ärgere mich über meine fast Neunjährige, dass sie schon wieder ohne Mütze rausgegangen ist, obschon ich sie wohl fünfmal daran erinnert habe, lache, wenn sie Zähne ohne Zahnpasta putzt, weil sie auch das vergessen hat. Bin ihr manchmal böse, dass sie in ihre Welt abtaucht, läuft verträumt herum, sieht nichts, merkt nichts, auch wenn ich mal Hilfe brauche (wie die Tür in der U-Bahn öffnen, wenn ich mit dem Buggy unterwegs bin), liest gerade ausgeliehene Bücher im Laufen. Ich ärgere mich, und dann kommt die Einleuchtung – ich war doch selbst genauso. Immer in meinen Traumwelten, in den Büchern, in der Aussenwelt nur zu Gast. Das ich jetzt so zielstrebig bin, so manchmal verbissen und perfektionisitisch, kommt ja daher dass ich mehrmals aus meinen Fehlern lernen musste. Und dann weiss ich – ich ärgere mich de facto über mich. Wie kann ich erwarten, dass mein Kind weit vom Apfelbaum fällt? Sie muss ihre Erfahrungen machen und mein Meckern hilft ihr nicht. Sie hat so Vieles von mir geerbt, Gutes wie Schlechtes und das muss ich hinnehmen.

    • Das hast du so treffend gesagt! Genau so ist es. Mir fällt es auch oft schwer, die Kinder tatsächlich so zu sehen und anzunehmen wie SIE SIND. Denn sie sind eigenständige Wesen mit eigener Persönlichkeit und nicht nur mit ererbtem oder den Dingen, die wir ihnen beibringen. Ich glaube, das ist unsere wichtigste Aufgabe als Eltern: immer wieder genau hinzusehen, sie so sein lassen, wie sie nun mal sind und uns selbst und unsere eigenen Befindlichkeiten möglichst außen vor zu lassen. Manchmal ist das unglaublich schwer finde ich. Aber ich tröste mich mit dem Gedanken, dass mir (so wie dir ja auch, wie du schreibst) das meistens bewusst ist und ich immer und jederzeit bereit bin, mich da kritisch anzuschauen in meinem eigenen Verhalten meinen Kindern gegenüber. Ich hoffe, das hilft ihnen und mir noch lange weiter. Alles Liebe für dich!

  9. So schön, vielen Dank. Ich kann mich/uns da gut wiederfinden. Bei uns war es auch die Geburt der Schwester, und er war selbst fast noch ein Baby. Es ist so schwer beiden gerecht zu werden und ich muss oft heulen, wenn ich daran denke, dass ich jetzt vielleicht wieder ein kleines Herz enttäuscht oder verletzt habe. Aber diese Grundmelodie – daran dachte ich schon. Ich gebe mein Bestes und vertraue Gott, dass Er es richtig machen wird mit den beiden. Er liebt sie ja noch viel mehr als ich und hat einen Plan für ihr Leben.

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