Ich denke über Wurzeln und Flügel nach. Über diese so viel zitierte Weisheit darüber, was unsere Kinder brauchen, um zu wachsen und zu werden.

Und einerseits denke ich (wie schon so häufig), wie viel Wahrheit darin liegt. Eine einfache Wahrheit, eine simple Eindeutigkeit, wie wir sie uns klarer nicht wünschen könnten, gerade als Eltern. Denn die Botschaft ist einfach: wer gut verwurzelt ist, kann sich gut lösen und den eigenen, selbstbestimmten Soloflug antreten. Eine Metapher fürs Erwachsenwerden.

Andererseits denke ich, so einfach ist das nicht. So eindimensional ist Erwachsenwerden nicht, schon gar nicht in diesen komplexen Zeiten, in denen wir leben. “Nur” mit Wurzeln und dem Willen zu fliegen, ist es nicht getan. Wer wüsste das besser als Eltern von großen Kindern, die sich anschicken, in die Welt zu gehen?

Ich habe hier drei Exemplare, gegossen aus dem identischen Genmaterial, im selben Umfeld und unter denselben Bedingungen aufgewachsen, auf dieselbe Weise geliebt und gehegt, mit denselben Möglichkeiten ausgestattet – und sie könnten nicht verschiedener sein in ihrer jeweiligen Art, dieses Ding mit der Pubertät zu navigieren. Die Wurzeln sind dieselben, sie sind für alle drei gleich stark, gleich verfügbar, gleich ausgeprägt. Und doch ist ihre individuelle Art, ihre Flügel auszubreiten so gegensätzlich wie Tag und Nacht.

Und während ich sie begleite, beobachte, wie sie ihre Herausforderungen angehen und meistern, sehe, an welcher Stelle welches meiner Kinder mühelos voranschreitet und an welcher Stelle es stehenbleibt und vielleicht noch mal einen Schritt zurück macht, denke ich darüber nach, dass der Spruch von den Wurzeln und den Flügeln für mich einen Aspekt außer Acht lässt: die Entwicklung von den Wurzeln zum erfolgreichen Ausbreiten der eigenen Flügel.

Entwicklung ist nämlich kein gerader Weg, der immer nur nach vorne gerichtet ist. Sie nimmt Umwege, legt Pausen ein, stagniert, dreht Schleifen und macht sogar Schritte zurück. Und sie verläuft für jeden anders und unterschiedlich schnell. Dennoch hat sie eine klare Richtung. Sie führt zum Ziel. Um in der Ausgangsmetapher fürs Erwachsenwerden zu bleiben: sie führt zum Soloflug, früher oder später.

Entwicklung passiert unweigerlich, sie lässt sich nicht verhindern, auch wenn es natürlich Aspekte in einer Biographie geben kann, die sie stören und erschweren können. Die starken Wurzeln sind der Ausgangspunkt, ohne sie wird es vielleicht schwer, aber nicht unmöglich. Auch Menschen mit Brüchen in ihren Biographien entwickeln sich und werden erwachsen und auch sie werden ihre Soloflüge meistern, jedenfalls die allermeisten. Selbst wenn sie ohne Wurzeln im Wind bestehen müssen.

Worauf ich hinaus will – Wurzeln alleine sind nicht der Grund, warum wir Flügel bekommen, um unseren Soloflug zu meistern. Es ist eine Frage der individuellen Entwicklung. Das Erwachsenwerden ist ein Prozess, es ist, als ob unsere Kinder sich ihre Flügel ausstatten müssen. Sie können sie nicht einfach ausbreiten und los fliegen. Feder um Feder müssen sie ihren Flügeln hinzufügen, Entwicklungsschritt nach Entwicklungsschritt machen, bis die Flügel stark genug sind, um sie zu tragen.

Manche Federn sind groß und prächtig, sie geben uns das Gefühl, dass der Soloflug gleich schon losgehen kann. Andere sind klein, weich und unscheinbar, aber ohne sie geht es nicht. Die Summe macht es, nur die Kombination macht die Flügel tragfähig. Unsere Kinder gehen durch diesen Prozess von Anfang an, aber in der Pubertät nimmt er Fahrt auf. Vielleicht versuchen sie, zu fliegen, bevor es gelingen kann. Vielleicht müssen wir damit leben, dass sie ein paar Fehlversuche durchleben oder gar einen Absturz. Ganz sicher aber müssen wir ihnen zutrauen, sich diese Federn anzueignen, eine nach der anderen, in ihrem eigenen, individuellen Tempo.

Und da kommt mir ein anderes Zitat in den Sinn: Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht – eine Metapher für Entwicklung und Wachstum. Ich sehe meine Kinder hier ihre Federn sammeln und ihre Flügel damit ausstatten, ganz allmählich. Eins sammelt vielleicht besonders eifrig, das andere mitunter zaghafter, aber dann… sehe ich sie die Flügel ausbreiten und die ersten Probeflüge machen. Kurze nur und manche auch riskant, aber sie fangen an, das Fliegen zu üben.

Ich schaue ihnen zu und weiß, sie können das. Ich vertraue in den Prozess, ich ziehe nicht am Gras bzw. schubse niemanden aus dem Nest, um zu testen, ob die Flügel schon tragfähig sind. Ich bin sicher, dass sie es sein werden. Wenn der Tag gekommen ist.

Für jedes meiner Kinder verläuft das Federn Sammeln unterschiedlich. So verschieden wie sie sind, meistern sie auch diese Entwicklungsphase jedes auf seine Weise und im eigenen Tempo. Ab und zu puste ich mal unter die Flügel, ganz sacht, damit der warme Wind sie ein Stückchen trägt. Und sehe dem Tag des Soloflugs entgegen, wenn sie endgültig ihre Flügel ausbreiten und aus eigener Kraft fliegen.

Last Updated on 22. Dezember 2022 by Anna Luz de León

5 Kommentare

  1. Eigentlich denke ich momentan, dass wir gar nicht so viel mehr tun können, als Wurzeln geben. Und nicht an den Federn ziehen, damit es schneller geht. Die Sache mit den Flügeln müssen sie wirklich selbst schaffen. Von den Wurzeln habe ich eine gewisse Vorstellung, das sind für mich Rituale (und seien sie noch so unspektakulär) und gemeinsame Erinnerungen und das Kraulen von drei Rücken, jeden Morgen. Aber das Vertrauen und das nicht Schubsen und nicht Ziehen – das ist schwer. Aber ich übe. Und Deine Texte helfen

  2. Du findest so treffende Worte. Ja, es ist beides – aber fliegen müssen sie selbst und ja, sie überraschen hin und wieder. Unser Sohn ist ausgezogen, wohnt in Berlin, macht sein FÖJ und ich staune, bin erstaunt- hätte eher darauf gewettet, dass er spät auszieht. Ich freue mich für ihn, auch wenn eine Lücke daheim und wir uns einfinden müssen. Es ist schön zu wissen, dass er gerne heimkommt. Einfach schön.

  3. So wahr liebe Anna und manchmal auch schwer aushaltbar… danke für den tollen Text -ich muss auch noch üben ;)

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