Wenn unsere Kinder größer werden, wenn sie in die Pubertät kommen, wenn sie Teenager werden, wenn sie immer mehr ihren ganz eigenen Weg finden und ihre einzigartige Persönlichkeit schärfen, stellen wir oft fest: sie sind nicht ganz so geworden, wie wir dachten, als sie noch klein waren.
Ich kenn dich! Du bist mein Kind!
Es ist doch so: natürlich haben wir Vorstellungen davon, wer unsere Kinder sind. Wie ihre Persönlichkeit ist, was ihre Stärken und Entwicklungsmöglichkeiten sind und wie sie sich aus unserer Sicht wohl entwickeln werden. Wir kennen sie so gut, wie sonst niemanden auf der Welt…
…so lange sie klein sind.
Denn das Leben mit unseren kleinen Kindern, uns körperlich so nah, so abhängig von uns in ihrem puren Überleben, das tägliche enge Miteinander mit diesen Winzlingen, die von unserer Liebe und unserer Fürsorge leben, gibt uns das Gefühl, dass wir sie durch und durch kennen. Wir glauben nicht nur zu wissen, wer sie genau sind, wir entwickeln aus dieser Kenntnis unserer Kinder auch eine Vision, eine Vorstellung davon, wie sie mal sein werden, wenn sie groß sind. Und es stimmt, wir kennen sie gut, sie sind uns so nah und so vertraut, dass wir ihre kleinsten Regungen richtig deuten können. Wir wissen alles über sie – in diesem Moment. Daraus leiten wir automatisch ab, dass wir auch weiterhin zuverlässig richtig einschätzen können, wer sie sind oder wer sie werden. Doch das ist – meist – ein Trugschluss.
Große Kinder, viele Fragen
Wenn unsere Kinder größer werden, wenn sie Teenager werden und jeden Tag aufs Neue herausfinden müssen, wer und wie sie eigentlich sind, zeigen sie uns Facetten und Seiten ihrer Persönlichkeiten, von denen wir bis zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung hatten. Die uns zum Teil vielleicht verwirren. Die wir nicht verstehen oder vielleicht sogar nicht mal mögen. Sie entwickeln sich immer deutlicher und unmissverständlich zu der Person, die sie sein sollen, von Anfang an. Und diese Bewegung ist eine weg von uns als Eltern.
Das hat viele Aspekte. Die körperliche Distanz entsteht auf natürliche Weise und wächst mit jedem Jahr, das unsere Kinder wachsen. Die Symbiose löst sich ganz allmählich auf, denn sie brauchen uns nicht mehr, um zu überleben. Sie schlafen nicht mehr in unseren Armen ein, eingekuschelt auf unserem Schoß zu sitzen ist nicht länger der sicherste und wichtigste Ort in ihrer Welt, und auch für Nahrungsaufnahme, Körperhygiene, Mobilität brauchen sie uns nicht mehr. Mit der Loslösung von uns als der Versicherung ihres Überlebens kommt die Autonomie und mit ihr eine größere Entscheidungsfreiheit über all die gerade aufgezählten Aspekte. Wir sind nicht länger die, die weitgehend darüber bestimmen, was sie essen, trinken, wie und wo (oder ob) sie sich waschen, kleiden, fortbewegen usw.
Autonomie versus Autorität: was Loslassen auch bedeutet
Witzigerweise sind diese Dinge oft diejenigen, über die es am meisten Streit gibt, sobald die Kinder größer sind. Es fällt uns Eltern nämlich nicht nur schwer, die Kinder „loszulassen“, sie ziehen und ihrer Wege gehen zu lassen. Es fällt uns auch schwer, unsere Macht abzugeben. Wirklich zu akzeptieren, was unsere Kinder über diese profanen und eigentlich „kleinen“ Dinge für individuelle Entscheidungen treffen. Und dass sie sie ohne uns treffen. Sich entgegen unseren Ratschlägen oder unserer Meinung entscheiden. Ganz bewusst.
Wie oft habe ich schon Gespräche unter Eltern jüngerer Kinder gehört, die kopfschüttelnd die Teenies der anderen Eltern betrachten.
„Also dem würd‘ ich nachts im Schlaf die Haare abschneiden/den Bart rasieren/etc.!“ „Das gäb’s bei mir nicht, dass die so rausgeht, man sieht ja die Nippel durch das Top/da sind Löcher in der Hose/ der BH guckt raus/etc.!“ „Die Kinder rauchen/trinken/knutschen/etc. in Gegenwart der Eltern, das würde ich nicht wollen, wenn das meine wären!“ „Vegane Ernährung? Und dann müssen die armen Eltern ständig ne Extrawurst für den braten? Das müsste der bei mir alles selber machen.“ „Fahrradfahren ohne Helm! Das ist so gefährlich! Haben die Eltern der das nicht rechtzeitig beigebracht? Das gäb’s bei mir nicht!“ „Nachts alleine draußen unterwegs in dem Alter – das ist ja mutig von den Eltern, das zu erlauben!“ Undsoweiterundsofort.
Mal abgesehen von den eindeutig übergriffigen Kommentaren – ich kann tatsächlich persönlich einige dieser Haltungen/Bemerkungen auf einem emotionalen Level nachvollziehen. Niemand möchte gerne, dass das eigene Kind ohne Helm Fahrrad fährt, raucht oder sich betrinkt. Auch einige der Frisuren, Modetrends, Kleidungsstile, Stylingvorlieben etc. meiner Kinder fand ich nicht so prickelnd und hab mir gewünscht, dass es schnell vorbei geht. Ich sag nur Fake Nägel.
Ohne Kompromisse eigenständig, vollständig, vollwertig
Fakt ist aber: diese „Kinder“ sind junge Erwachsene und sowieso sind sie eigenständige und vollständige Persönlichkeiten. Schon von Anfang an. Wir haben sie bis zu diesem Punkt dazu erzogen, selbständig und selbstbestimmt zu sein. Wir wollten, dass sie erkennen, wer sie selbst sind und dann einen Weg finden, das auszudrücken. Für sich einzustehen. Sich nicht einfach automatisch der Masse anzupassen, sondern auch mal gegen den Strom zu schwimmen, wenn es um ihre Persönlichkeit geht. Wir haben ihnen gesagt, dass es okay ist, mit dem Lillifeekostüm in die Kita zu gehen oder mit Haifischflosse auf dem Rücken und dass sie nicht zum zehnten Mal den Broccoli beim Schulessen „kosten“ müssen, wenn sie schon wissen, dass sie ihn nicht mögen. Wir haben ihnen beigebracht, dass es nicht okay ist, über das Aussehen anderer Kommentare zu machen und dass sie sich selbst auch dagegen wehren dürfen, wenn jemand ihr Aussehen kommentiert. Und ja, wir haben ihnen auch gesagt, dass Rauchen schädlich ist, dass ein Sturz vom Rad ohne Helm tödlich und Alkoholkonsum problematisch sein kann.
Aber jetzt sind sie auf dem Weg, all das zu sortieren. Sich auszudrücken über all diese Dinge. Viel davon gefällt uns nicht, doch es ist nicht mehr an uns, diese Dinge für unsere halb erwachsenen Kinder zu entscheiden oder deshalb Druck auf sie auszuüben.
Es geht nicht um uns. (Auch nicht um unsere Zustimmung.)
Wir können auf bestimmte Aspekte immer wieder hinweisen, ihnen sagen, denk an deinen Helm, bitte sei vorsichtig, bitte pass gut auf dich auf, melde dich zwischendurch mal etc. Aber aus meiner Sicht beschränkt sich auch diese Art der Intervention auf die relevanten Dinge, die ihre Sicherheit und ihre Gesundheit betreffen.
Sobald es um Ernährungsentscheidungen oder auch nur -vorlieben geht, darum, wie sie sich anziehen, was sie für Musik hören, mit wem sie sich befreunden usw. – sind wir ein für alle Mal raus. Es geht nicht um uns. Was nicht heißt, dass wir keine Meinung haben dürfen zu all diesen Dingen. Aber wir haben im Grunde nicht mehr Rechte, als irgendein anderer x-beliebiger Mensch im Leben unserer Kinder, diese Meinung ungefragt zu äußern. Wir müssen spätestens an dieser Stelle akzeptieren, dass wir nicht länger die Entscheider*innen im Leben unserer Kinder sind.
Sie führen ihr eigenes Leben und das findet parallel zu all dem statt, was wir hier in den Jahren zuvor etabliert haben. Übrigens ist ihnen natürlich unsere Meinung dennoch extrem wichtig, auf die ein oder andere Art und Weise. Weshalb wir mit den Meinungsäußerungen zum äußeren Erscheinungsbild unserer Kinder besonders achtsam sein sollten, wenn wir denn schon überzeugt sind, sie tätigen zu müssen. Sie schauen auf uns, wie wir mit ihren Entscheidungen umgehen, ob wir sie ernst nehmen, ob wir sie anerkennen, so wie wir es bei anderen Erwachsenen tun oder es für uns selbst in Anspruch nehmen. Wir müssen jetzt nicht alles gut finden, aber wir müssen es anerkennen.
Loslassen: was unsere Kinder jetzt von uns brauchen.
Auf dem Weg zum eigenständigen erwachsenen Menschen brauchen unsere Kinder uns also immer weniger und das betrifft nicht nur die oben genannten Bereiche. Das haben wir in der Theorie ja auch in all den Jahren zuvor schon gewusst. Nicht bewusst war uns allerdings, dass es dabei nicht nur um Einschlafbegleitung am Abend, Eingewöhnung in der Kita geht, Hilfe bei den Hausaufgaben oder Organisation ihres Alltags geht.
Stattdessen gehört neben Kleidungs- oder Lifestylefragen und Musikauswahl vor allem auch das Entwickeln einer eigenen Haltung dazu. Zum Leben, zur Welt, zur eigenen Familie und Wahlfamilie (ja, da kommt „Konkurrenz“ ins Haus!), Einschätzungen zu moralischen Fragen genauso wie zu politischen und gesellschaftlichen Themen. Und ja, sie entwickeln all das auch auf Grund dessen, was wir zuvor im Leben in ihnen verankert und was wir ihnen vorgelebt haben und orientieren sich mit Sicherheit an dem gemeinsamen Wertesystem, das wir ihnen bereitgestellt haben. Aber da ist noch viel mehr, das sie prägt und es liegt außerhalb unseres Einflussbereichs.
Sie brauchen uns nicht mehr, um sich eine Meinung zu bilden. Wir sind nicht mehr ihr wichtigstes Portal zum Wissen über die Welt. Sie haben Zugang zu allem, wozu wir auch Zugang haben, und sie verschaffen sich ihre Erkenntnisse ganz und gar ohne uns. Was das automatisch auch mit sich bringt: je nach dem, wofür sie sich interessieren, wissen sie in Nullkommanix über bestimmte Dinge besser Bescheid als wir.
Themen, mit denen wir uns vielleicht schon länger nicht befasst haben oder die sich so schnell entwickeln, dass wir den Anschluss verpasst haben, sind für sie möglicherweise sehr vertraut. Oder es kommen Themen und Aspekte auf, die für uns noch nie auf dem Zettel waren, für unsere Kinder aber wichtig sind. Jetzt sollten wir anerkennen, dass wir von ihnen lernen können und nicht (mehr) umgekehrt.
Bei uns sind es beispielsweise die Themengebiete Fleischkonsum und Feminismus, zu denen ich quasi täglich von meinen Kindern lerne, um nur zwei Bereiche zu nennen. Und sich daran zu gewöhnen, dass sie diejenigen sind, die mir etwas beibringen können, und zwar nicht auf dem Niedlichkeitslevel einer Fünfjährigen, die sich in ihrer Spezialistinnenphase auf einem abwegigen Niveau Dinowissen angeeignet hat – ist eine Aufgabe. Was unsere Kinder jetzt von uns brauchen, ist nicht Zustimmung um jeden Preis. Es ist gut, wenn wir uns auseinandersetzen, es ist gut, sich zu unterscheiden und das auszuhalten. Aber wir müssen ihnen zuhören. Das, was sie bewegt, ernst nehmen. Ihre Haltung anerkennen, auch wenn wir sie vielleicht nicht auf Anhieb verstehen oder teilen können.
Loslassen heißt, sie anzuerkennen, wie sie sind.
Aber es gehört dazu. Sie sind nicht mehr einfach nur unsere Kinder. Sie sind, mehr denn je, auf dem Weg, eine von uns vollkommen unabhängige, eigenständige und selbstbestimmte Person zu sein – genau die Person, die ihnen bestimmt ist zu sein.
Nicht die, die wir in ihnen sehen. Nicht die, die wir uns vorgestellt haben, als sie noch klein und vollkommen in unserer Hand waren (damit meine ich die emotionale, körperliche und psychische Abhängigkeit eines kleinen Menschen von seinen erwachsenen Bezugspersonen, nicht die willkürliche Machtausübung dieser Personen über die kleinen Menschen). Nicht die, die wir selbst gerne (geworden) wären. Nicht die, von der wir denken, dass es die perfekte Version unseres Kindes wäre. Sondern einzig und allein die Person, die in ihnen angelegt ist, von Anfang an. Mit allem, was dazu gehört.
Sexuelle Orientierung, psychische, neurologische und emotionale Grundstruktur, ihre geschlechtliche Identität aka Gender (nicht unbedingt identisch mit ihrem biologischen Geschlecht), ihre körperliche Grundstruktur, Fähigkeiten und Talente, Intellekt und individuelle Interessen etc. Da gibt es sehr viel, auf das wir durch Erziehung und Vorleben keinen Einfluss haben.
Hatten wir nie. Aber wir konnten uns lange auf unser Expertinnenwissen über unsere Kinder berufen, wir wussten, wenn sie in unserem Arm einschliefen, wenn nur wir der sichere Hafen waren, der einzige Ort, den sie immer ansteuerten, um sich geborgen zu fühlen – dass wir sie in- und auswendig kennen und einen mächtigen Platz in ihrem Herzen einnehmen. Unersetzbar, die wichtigste Autorität in allen Fragen in ihrem Leben. Wir hatten letztlich das Sagen, im besten Sinn.
Wir waren nicht nur diejenigen an der Seite unserer Kinder, wir sind ihnen häufig vorangegangen und haben ihnen Wege bereitet, die sie alleine noch nicht gehen konnten. Dafür und für viele andere Dinge brauchen sie uns nun nicht mehr. Im Gegenteil. Würden wir weiter darauf bestehen, ihnen voranzugehen, ihre Wege als letzte Instanz mit zu bestimmen, ihre Entscheidungen für sie oder maßgeblich mit ihnen zu treffen, würden wir jetzt, in dieser Lebensphase und auch in künftigen Jahren ganz weit ins Abseits geraten.
Denn jetzt… sind sie all das selbst, was wir zuvor für sie waren. Sie sind die Entscheider*innen, die Expert*innen und die einzige Autorität, auf die es ankommt, wenn es um ihr Werden und Sein geht. Wir sind ein Stückchen an den Rand gerückt und schauen mehr zu, als dass wir agieren können. Wir sind nicht weniger wichtig in ihren Herzen, wir sind noch immer ihre Wegbegleiter*innen und vielleicht sind wir auch noch immer ihr Leuchtturm. Vielleicht bleiben wir noch für viele Jahre ganz vorne in der Hitliste ihrer wichtigsten Menschen.
Nur sind wir dort nicht mehr allein. Und wir sind nicht mehr gefragt, ihnen voranzugehen. Wir dürfen bestimmt in vielen Aspekten weiterhin an ihrer Seite gehen, aber eigentlich ist unser neuer Platz im am Ufer. Während unsere Kinder in See stechen und ihren eigenen Kurs aufnehmen, bleiben wir zurück.
Doch wenn es uns gelingt, sie in Liebe und Großzügigkeit loszulassen – werden sie immer zu uns zurückkehren. Sie werden wissen, dass wir sie sehen und anerkennen, als genau die Person, die sie sind. Dass unsere Liebe nicht besitzergreifend ist und sie in ein Bild zwängen will, das ihnen nicht entspricht. Sie werden in uns immer ihre Heimat, ihren Ursprung, ihre Wurzeln sehen. Wenn wir sie loslassen, so wie sie es brauchen, bleiben wir der Ankerplatz, an dem sie immer wieder anlegen werden.
Aber Loslassen müssen wir sie zuerst. Das ist die Herausforderung. Das ist die Aufgabe.
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1 Comment
Wow! Was für ein Text… den man sicherlich mehrmals lesen muss, weil er so viele Aspekte, tiefe Wahrheiten, Gedanken, Denkanstöße enthält!
Vieles von dem, was Du schreibst, kann ich so direkt unterschreiben, mache ich intuitiv oder hätte ich ähnlich formuliert. Einige Gedanken sind neu und müssen erst einmal “sacken”, erscheinen aber schon beim ersten Lesen sehr richtig und wichtig. Unser Sohn wird bald 13 und ist schon mitten in der Pubertät.
Deine Worte helfen mir, das ein oder andere noch einmal in einem anderen Licht zu sehen und unserem Umgang miteinander besser zu verstehen.
Danke!