Rituale verändern sich mit dem Älterwerden der Kinder, die Sehnsucht nach den Ritualen nicht. Woran liegt das? Was gibt es uns als Kinder, wenn die Dinge immer wieder auf dieselbe Art und Weise ablaufen? Und was bedeutet das für uns als Erwachsene?

Ich erinnere mich genau, wie es war, in das entzauberte Alter zu kommen. Zu wissen, dass es all das so nicht gibt: ein Christkind, das zu Weihnachten zu den Menschen kommt, jedes Jahr, das Geschenke bringt und den Tannenbaum. Zu wissen, dass das meine Eltern waren, die da gewirkt haben, vor allem meine Mutter. Es dauerte einen Moment, bis ich aus dem Christkindglauben einfach rausgewachsen war, dafür aber von Herzen wertschätzen konnte, was meine Eltern da jedes Jahr zu Weihnachten für uns getan hatten. Immer aufs Neue und doch immer gleich.

Denn es ist eben noch mehr, als nur der Glaube an etwas wundervoll Magisches, das niemand vollends erklären und mit dem Verstand erfassen kann. Es geht auch darum, dass selbst in den kleinsten Ritualen und Traditionen, die beispielsweise meine Eltern damals für mich schufen und die ich in all den Jahren für meine Kinder geschaffen habe, ganz viel Sicherheit und Verlässlichkeit liegt. Eine Sicherheit unter all dem Zauber, die unseren Kinderseelen schon mitgibt, wovon wir als Erwachsene noch zehren können: die Verbindlichkeit von festen und wiederkehrenden Abläufen, die Sicherheit, dass die Dinge genauso (oder dann irgendwann fast genauso) ablaufen, wie immer.

Und dabei geht es neben Festen wie Weihnachten oder Geburtstag, Silvester, Ostern oder Nikolaus oder anderen Traditionen zB in anderen religiösen oder kulturellen Kontexten auch um kleine Alltagsdinge. Für jeden von uns kann es etwas anderes sein, das uns uns geborgen fühlen lässt.

Wenn wir unseren Kindern jeden Abend vor dem Schlafengehen eine Geschichte vorlesen oder erzählen, wenn sie im Sommer baden gehen und wir sie danach immer ins Handtuch wickeln und mit demselben Lied trockenrubbeln, wenn wir auf dem Weg zur Kita den immer selben Abzählreim aufsagen oder abends ein Gebet, wenn es freitags Pizza gibt und dann einen Film… dann sind das unter anderem die vielen kleinen Dinge, die ein Gerüst aus Verlässlichkeiten und damit auch Geborgenheit um unsere Kinder herum bilden.

Ich erinnere mich noch heute an viele solcher Kleinigkeiten aus meiner Kindheit, weil sie mir viel bedeutet haben. Aus eben genau diesem Grund: sie waren gefüllt mit Fürsorge und Liebe und sie waren wiederkehrende Elemente in der Struktur meines kleinen Lebens. Sie gaben mir Sicherheit.

Es war die Art und Weise, wie mein Vater uns jeden Morgen vor der Schule weckte, meinen Bruder und mich. Und wie er uns ins Bad trug, einen nach dem anderen, damit wir allmählich wach wurden und nicht wieder einschliefen. Es war der Frühstückstisch, den meine Mutter abends vorm ins Bettgehen als letztes noch deckte, damit es morgens weniger zu tun gab. Es war die Milch, von der meine Eltern überzeugt waren, dass wir sie trinken sollten und die mein Vater deshalb jeden Morgen anders verkleidete, damit wir sie mochten: als Bananenmilch, Kakao, Erdbeermilch, später mit einem Schuss Kaffee…

Es war das Gitarrespielen jeden Mittwochabend, bei dem wir noch zuhören durften und uns jeder ein Lied wünschen, bevor wir ins Bett gingen. Es war der morgendliche Gang zum Kindergarten, Hand in Hand mit meinem Bruder. Und das abendliche Wispern in unserem Stockbett, wo wir kicherten oder zankten, bis es Ärger gab. All das und noch viel mehr. Die Summe vieler kleiner Rituale schuf das Gerüst, das uns half, uns zu orientieren und zu vertrauen.

Mit meinen Kindern habe ich es genau deshalb ebenfalls so oder so ähnlich gemacht. Jetzt, wo sie groß sind, kann ich sehen, wie sehr das Gerüst aus Verlässlichkeiten, zusammengefügt aus all den kleinen Ritualen, sie hält. Und wie neue, teilweise zufällig entstehende Rituale, die alten allmählich ersetzen, die eben für kleine Kinder gemacht sind und ausgedient haben.

Ich wecke die Kinder nicht mehr, sie haben ihre eigenen Aufstehabläufe und jedes ist dabei anders. Aber ich koche morgens eine Runde Tee für alle und das Goldkind bekommt noch immer die Lunchbox, die es so liebt. Sie gehen zu ihren eigenen Bettgehzeiten Schlafen und am Wochenende sind wir Eltern oft vor ihnen im Bett. Aber statt des Abendgebets, was immer mehr ein kleines Einschlafritual war, als dass es wirklich religiösen Gehalt hatte, schicken wir uns eine letzte Gute Nacht-Nachricht aufs Handy, wenn sie noch unterwegs sind und wir schon schlafen gehen.

Sie  verbringen viel ihrer freien Zeit am liebsten mit ihren Freund*innen, aber das Sonntagsessen mit der Familie ist ein fester Termin, an dem alle festhalten, selbst wenn es nur ein Rührei und ein Sandwich gibt. Sie wünschen sich den gemeinsamen Kirchgang zu Weihnachten und das Lied am Bett am Geburtstagsmorgen, sie lieben unsere Serienmarathons und unsere Wochenendetrips ins Haus am Meer. Im Auto werden inzwischen andere Lieder gesungen auf längeren Fahrten als früher, aber wir spielen immer noch unsere Wortkettenspiele, wenn wir zusammen unterwegs sind.

Es ändert sich so viel im Leben mit Kindern! Es ist im Grunde jeden Tag so, dass die Prozesse der ersten und letzten Male ineinander greifen und neue Dinge die alten ablösen. Aber die Rituale geben uns Halt und wir kehren gerne zu den Dingen zurück, die uns Halt geben. Also backe ich mit den großen Kinder immer noch jeden Advent die alten Plätzchensorten, nur wird dabei eben auch mal ein Cocktail gemischt oder ein bisschen trashige Musik gehört. Und wir gehen wie jedes Jahr auf denselben Weihnachtsmarkt, der für Teenies eigentlich gar nicht so viel zu bieten hat, wie viele andere Märkte, aber es ist halt “unser” Markt, und wir trinken dort wie immer Apfelpunsch und essen gebrannte Mandeln und besuchen die Frau mit den Leuchtsternen, bevor wir zum Glühweinstand neben der Jurte kommen.

Danach trennen sich die Wege, die einen gehen hierhin, die anderen dorthin. Das ist kein bisschen schwer oder traurig, sondern es ist einfach Zeit dafür. Und später irgendwann, treffen wir uns zu Hause für Sushi und einen Film und schmücken ein bisschen den Baum und hören doofe Lieder. Wie immer. Ein neues “wie immer”, ein anderes “wie immer” als früher. Aber genauso gut und richtig.

Rituale aus der Kindheit werfen Anker in unseren Seelen. Und an diesen halten wir uns fest, wenn wir erwachsen sind. An diesem “wie immer” richten wir uns aus. Das sind die kleinen Bausteinchen unserer Gerüste, die uns ein bisschen mehr Stabilität und Sicherheit geben in unserem täglichen Leben. Egal, wie alt wir sind.

4 Kommentare

  1. Liebe Anna,

    ich sehe gerade das morgendliche Kraulen dreier Rücken in Schlafanzügen, die Pfannkuchen am Samstag, das Frühstück das der Mann auch den großen (morgenknurrigen) Teenagern noch macht und den immer gleichen Halt bei Mc Donalds in Flensburg auf dem Weg nach Norwegen in anderem Licht. Für meine Kinder ist das jetzt und wird es später in der Rückschau vermutlich vor allem Familie und Vertrautheit bedeuten. Das ist schön <3

  2. Guten Morgen, liebe Anna. Ich sitze, wie jeden Morgen seitdem ich Rentnerin bin, auf meinem Balkon in Pankow und höre Berlin zu, wie es zum Tagwerk übergeht. Rituale sind auch für meine Lieben und mich wichtig und die Haltegriffe durchs Leben. Egal, wie sie sich verändern im Laufe desselben. Und jeder, der sie erfahren hat und so oder so weitergibt, schafft ein kleines bisschen Sicherheit. Sie nähren uns und behüten uns, wenn wir in den Stürmen des Lebens bestehen wollen und können.
    Ein tröstlicher Gedanke.
    Liebe Grüße nach Mitte und danke.

  3. Liebe Anna, ich denke, was ich bei jedem Deiner Texte denke: Wann schreibt Anna endlich Bücher? Ich würde Deine klugen, tiefen Gedanken so gerne an mir wichtige Menschen weiterverschenken. Bis dahin verschicke ich die Links zu Deinen Texten.
    Eine schöne Weihnachtszeit
    Maya

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