Leise Musik dringt aus dem einen, eine vorgelesene Geschichte auf CD aus dem anderen Zimmer. Ich tappe auf Zehenspitzen erst zum einen Kind, mache die Einschlafmusik aus, schließe das gekippte Fenster und schaue auf das entspannte Schlafgesicht. Ich drücke ein vorsichtiges Küsschen auf die Stirn und gehe ins zweite Kinderzimmer. Da liest Catherine Stoyan Liliane Susewind vor und ein Leuchtstern bewegt sich leicht im Nachtwind, der durchs Fenster weht. Auch hier mache ich den CD-Spieler aus und schließe das Fenster. Auch hier betrachte ich mein schlafendes Kind mit einer Mischung aus Staunen, Ehrfurcht und etwas Bittersüßem, das mir jeden Abend ein bisschen das Herz zerreißt. Mein Herz ist weit und warm vor Liebe zu diesen gar nicht mehr so kleinen Menschen – und gleichzeitig ist es durchzogen von so viele Unsicherheiten, Fragen und auch Ängsten.
Ich küsse diese Gesichter, ich streiche Haare aus der Stirn und betrachte diesen Unschuldsschlaf mit meinen gemischten Gefühlen. Und dann muss ich – loslassen.
Ob ihr es merkt? In eurem Schlaf? Ob sich meine stummen Botschaften irgendwie in euer Bewusstsein übertragen, wenn ich an euren Betten stehe und euch betrachte? Das frage ich mich jedes Mal, und teilweise hoffe ich, die Botschaft dringt durch, teilweise wünsche ich mir, ihr erfahrt nicht, wie verquer meine Gedanken mitunter sind, wenn ich euch anschaue.
Eure Wege fort von mir
So geht es mir nicht nur abends an euren Betten. So geht es mir manchmal auch in unverhofften Umarmungen während des Tages, in Situationen des Abschieds oder Wiedersehens oder auch, wenn eins von euch seelische Not hat und sich in meinen Armen aufladen möchte. Dann lege ich alle Liebe, derer ich fähig bin in diesen einen Kuss oder die Umarmung und hoffe, sie geht auf euch über wie ein Schutzzauber.
Denn es ist so: ihr seid groß. Es ist nicht mehr wie früher, wo ihr jeden Tag auf meinem Schoß saßt oder an meiner Hand spazieren gingt. Nicht mehr wie in den Tagen, da ihr eingerollt an meiner Seite schlieft oder in meinen Armen ausruhtet, während wir Geschichten erzählten, Bücher lasen oder Lieder sangen. Nicht mehr wie in euren ersten Tagen und Wochen auf der Erde, als ihr winzig und zerbrechlich an meiner Brust lagt und wir gefühlt immerzu Körperkontakt hatten. Nicht wie die vorgeburtlichen Zeiten in meinem Bauch, als ich noch nicht wusste, wer ihr sein würdet und ihr mir dennoch so nah wart, wie es nur vorstellbar ist.
Jetzt seid ihr groß. Jeder Schritt, den ihr tut, führt fort von mir. Wie wunderbar und richtig das ist! Und wie ich es liebe, euch dabei zu beobachten, wie ihr all das lernt und tut, was für euch vorgesehen ist. Ich staune über die Blitzgeschwindigkeit, mit der eure Entwicklung voranschreitet, nachdem gefühlt jahrelang nicht so viel Neues passiert ist: jetzt sind die Tage gekommen, wo ihr euch mit Siebenmeilenstiefeln auf eure Wege macht – und ich bleibe zurück.
Denn diese Wege, die sich jetzt vor euch ausbreiten, die sind nicht meine, die bin ich schon gegangen. Sie liegen hinter mir. Ich bin schon die Sechzehnjährige gewesen, die sich zum ersten Mal richtig verliebt, die darüber nachdenkt, was sie im Leben werden will und die sich erstmalig wirklich mit den großen Fragen des Seins auseinandersetzt. Ich bin auch schon die Zwölfjährige gewesen, die die ersten Schritte in ein selbstbestimmteres und unabhängigeres Leben tut, die sich zum ersten Mal bewusst eigene Leute sucht, plötzlich erlebt, was eine Clique ist und deren Geburtstagsfeiern mit einem Mal Party heißen. Und ich bin die Zehnjährige gewesen, frischgebackene Gymnasiastin, deren Hobbys aus der Kindheit auf einmal ganz neue Dimensionen annehmen und die mit neuer Mühelosigkeit ihre Wege allein zurücklegt. Ich bin dort schon gewesen, meine Richtung ist heute eine andere. Und ich kann nicht zurück und möchte es auch gar nicht.
Aber vor euch, meinen Kindern, breiten sich diese Wege gerade erst aus. Manche von ihnen sind schon deutlich zu erkennen, andere liegen halb im Nebel und es ist noch fraglich, wohin sie führen. Klar ist, dass ihr geht, die eine früher als die anderen, aber ihr geht alle drei, während ich bleibe und euch hinterher schaue.
Loslassen und Wiederkehren
Das wusste ich, seit ihr geboren wurdet und habe mich damit auseinandergesetzt, seit die Nabelschnur zwischen uns durchtrennt wurde.
Was ich nicht wusste ist, wie sich das anfühlen würde. Nicht das Loslassen, das habe ich schon geübt. Und auch nicht das Gefühl, als ihr laufen lerntet und ich zusah, wie ihr die abenteuerlichsten Stürze fabriziert habt. Nicht das Gefühl, als ihr in die Kita kamt und anfingt, eure Tage ohne mich zu verbringen. Und auch nicht, als der Einschulungstag da war und ihr mit großen Schultüten im Arm loszogt. Das war alles leicht. Ich war stolz und glücklich und konnte euch gut gehen lassen.
Es ist nicht, dass ich nicht loslassen kann, das kann ich seit den „kleinen Tagen“, darauf bin ich vorbereitet.
Was ich nicht vorhersehen oder einüben konnte, war mein Gefühl, das sich jetzt einstellt, wenn euer Wiederkommen zu mir sich verändert. Die Erkenntnis, dass dieses Wiederkommen flüchtiger wird. Ich konnte nicht wissen wie es sein würde, wenn mein Platz in eurem Leben kleiner wird, weil andere Dinge mehr Raum einnehmen und für euch wichtiger werden. Eure Freund*innen, eure Hobbys, neue Dinge, mit denen ihr eure Zeit zubringen möchtet. Denn als ihr klein wart, kehrtet ihr immer zurück an meine Seite, in meine Arme, ganz konkret. Ihr kehrtet zurück auf meinen Schoß, ihr schlieft in meinem Bett, ihr hattet euer ganzes Sein auf mich gerichtet, auf uns als Eltern.
Jetzt ist es anders. Ja, ihr kommt nach Hause, ihr kommt zur mir, ihr braucht mich, und es gibt noch immer sehr viel in unserem täglichen Leben, wofür nur ich die Richtige bin. Aber es ist nicht mehr diese körperliche Nähe, nicht die Überzeugung, dass eure Welt nur dann rund läuft, wenn ihr viele Stunden am Tag (und in der Nacht) ganz dicht an und mit mir verbringt. Ihr kommt nach Hause und lächelt mich an, um dann sofort in eure eigene Welt zu verschwinden, wie immer diese auch gerade aussieht. Manchmal ladet ihr mich ein, einen Blick hineinzuwerfen, aber oft kann ich nur raten. Das ist okay. Ihr kommt klar, ich komme klar.
Habt ihr genug Wurzeln für eure Flügel?
Was mich an eure Betten treibt und euch oft einen Moment länger festhalten lässt, wenn ihr mich umarmt, ist die Frage, die ich mir stelle, seit ihr in meinem Leben seid: war das alles schon genug? Sind diese bisherigen Jahre, diese Zeit der Innigkeit und Verbundenheit ausreichend gewesen, um euch zu wappnen? Euch auszustatten mit einem möglichst stabilen Schild, das euch vor dem Schlechten in der Welt schützt oder wenigstens dafür sorgt, dass ihr nicht nachhaltig getroffen werdet von Angriffen oder Enttäuschungen? Habe ich euch genug geliebt bis hierher, so dass ihr verwurzelt in dieser Liebe eure Wege ruhig gehen könnt? Sind all die Dinge, die uns als Eltern wichtig sind, in euch verankert? Alle Werte und alle Beispiele von gutem, respektvollem, liebevollem menschlichem Miteinander, die wir euch versucht haben zu geben?
Ich schaue also in eure schlafenden Gesichter und denke, irgendwann werde ich das nicht mehr tun können, euren Schlaf bewachen, euch behüten, euch auf diese Art begleiten wie bisher. Ich denke daran, dass diese Zeit unweigerlich zu einem Ende kommt oder zum Teil schon gekommen ist, in der ich in so gut wie alle eure Lebensbereiche involviert bin. Ich denke daran, dass ich nicht immer da sein werde und dass meine eigene Endlichkeit etwas ist, das mich noch dringender lieben, noch inniger bei euch sein, noch intensiver die Zeit auskosten lässt. Und dass gleichzeitig eure Entwicklung diesem Wunsch entgegenläuft.
Denn es ist normal und altersgerecht, dass ihr euch von mir weg entwickelt. Dass ihr euch auf eure eigenen Wege ausrichtet, statt wie zu Kleinkindzeiten immer auf meinen Schoß zurückzukehren und dass andere Menschen, neue Menschen, wichtiger werden und eine größere Rolle in euren Leben einnehmen, als ich.
Aber ich weiß Dinge, die ihr noch nicht wissen könnt. Ich weiß, dass der Moment kommt, an dem ihr euch in euren Leben wieder mehr zurück zu euren Wurzeln orientieren werdet, Phasen, in denen ihr euch abgleichen wollt und in denen ihr viele Fragen an mich haben werdet – vielleicht auch kritische Fragen oder Vorwürfe. Ich weiß, dass ihr daran jetzt nicht denkt und auch noch lange nicht denken werdet, aber diese Zeit wird kommen.
Und hoffe und wünsche mir, dass ich dann hier sein werde, genau hier, wo ihr mich zurückgelassen habt und auf euch warten werde, um all eure Fragen zu beantworten und für euch da zu sein. Aber ich kann das nicht wissen. Niemand von uns hat die Gewissheit darüber, wieviel Zeit auf dieser Erde er bekommt und ob er all das wird tun können, was er sich vorstellt oder wünscht.
Das Zuhause unserer Liebe
Also drücke ich euch extra doll und schleiche heimlich an eure Betten, weil ich weiß, dass dieses JETZT nur uns gehört und wir das nutzen müssen. Ich muss es nutzen, um eure Wurzeln zu stärken und so viel Liebe wie möglich um euch zu weben, wie einen warmen Mantel, in den ihr euch hüllen könnt, auch wenn ihr fortgeht, jeden Tag ein Stück. Ein Stück von mir, ein Stück Zuhause.
Ich weiß, dass ich vergehen werde, aber meine Liebe wird es nicht. Ich weiß, egal, was passiert, egal, wie oft wir loslassen müssen und uns darauf verlassen, dass unsere Hände einander wiederfinden, meine Liebe ist unauslöschlich in euch eingebrannt. Sie wird mich überdauern, sie wird all das hier überdauern und selbst, wenn es dieses Haus vielleicht irgendwann nicht mehr gibt oder es nicht mehr unser Zuhause ist, wird das Zuhause meiner Liebe niemals vergehen. Ihr, meine Kinder, könnt immer dorthin. Ihr müsst nicht mal reisen dafür, denn egal, wo es euch im Leben hin verschlägt, das Zuhause meiner Liebe nehmt ihr immer mit euch. In euren Herzen habe ich es angelegt, in euch wächst es jeden Tag, und es wird mit euch gehen und weiter wachsen, weil ihr es erweitern werdet – mit eurer Liebe für eure Kinder.
Und dann wird es euch so gehen, wie heute mir, wenn ich an eure Betten trete, bittersüß verliebt in diese Verbindung zwischen uns und weiß: ich liebe euch auf diese Weise, weil ich ebenso geliebt wurde. Ich spüre diese Liebe noch immer, seit ich auf dieser Welt bin begleitet sie mich. Meine Mutter ist lange tot und doch ist ihre Liebe noch immer um mich und in mir. Das wird mir immer bleiben. Ihre Liebe ist mein Zuhause und meine Liebe ist das Eure.
Das ist es, was bleibt.
14 Comments
Ach Anna…. ich habe selten so einen wunderschönen Text gelesen, der im Herz schmerzt, weil er so unglaublich liebevoll und wahr und bittersüß ist….Danke.❤
Mir kamen beim Lesen die Tränen. Vielen Dank für deinen berührenden Text, der mir so aus dem Herzen spricht. ❤️
Liebe Anna,
welch ein schwerer und doch gleichzeitig so leichter, vor allem anderen aber wunderbarer Text! Ich liege noch im Bett und habe beschlossen, dass ich heute etwas später arbeiten gehen muss,denn dieser Text hat mich gedanklich irgendwo hin getragen. Und da muss ich noch einen Moment bleiben und alles wirken lassen!
Danke für diese ungeplante “Stop-Taste” an meinem extrem vollen Freitag!
Allerliebste Hamburger Grüße nach Berlin,
Jenny
Anna, mal wieder wunderwunderschön aus dem Herzen geschrieben. Ich liebe deine Texte. Da kommen einfach so die Tränen beim Lesen <3
Ach Anna, wie wunderbar! Vielen Dank für Deine weisen Worte! Mein Herz schmerzt und ich weiß so genau wie sich das anfühlt! Danke!
❤️
Liebe Anna,
deine Worte berühren mich immer, egal worüber du schreibst und sprechen mir oft aus der Seele. Aber dieser feinsinnige, zutiefst emotionaler Text, der nahezu überquillt vor Mutterliebe, trifft mich direkt und ohne Umwege ins Herz. Ich kann deine Gedanken nur allzu gut verstehen. Ich erlebe mit meinen Kindern gerade genau diesen Wandel der Zeit. Ich werde ihnen deine Zeilen zu lesen geben und hoffe, sie können sich ein wenig in meine Gedanken einfühlen. Danke.
Liebe Anna, kann man so etwas schreiben, ohne dabei zu weinen? Ich habe jedenfalls bitterlich geschluchzt beim Lesen. Auch wenn meine Kinder noch kleiner sind, habe ich gerade oft diese Momente, wo ich mir vorstelle, wie anders es wird, wenn ich in ihrem Leben nur noch am Rand stehe und zuschaue. Wie kurz diese Zeit eigentlich ist, in der sie so viel von mir wollen, so viel Zeit und Aufmerksamkeit und Zuwendung, Kuscheln und Vorlesen und Spielen, in der sie mir alles erzählen. Jedes Mal denke ich, ich sollte es noch intensiver genießen – wenn man nur die Zeit und Ruhe dazu hätte. Wieder einmal danke für deine Worte, die für deine Kinder später einmal so wichtig sein werden. Ich wünschte, ich würde meinen solche Worte hinterlassen.
Was für wunderbare Worte. Ich bin tief berührt.
Das Zusammenleben mit unserer großen 20j Tochter ist gerade nicht immer einfach.
Aber ich hoffe, dass sie stets die Liebe spürt….
Ach Anna -wie wunderschön-wie leise -ich sitze hier und weine-jeden Abend stehe ich auch an den Betten und das ist so ein schön Gefühl … Danke für den tollen Text ❤️Bin ganz gerührt
Wunderschön berührend und so wahr. Die Gänsehaut geht gar nicht mehr weg…
Was für ein beeindruckender Text. Ich sitze im Auto und weine, weil ich mir soooo oft die gleichen Fragen stellen. Werden unsere Kinder das Gefühl LIEBE und FAMILIE genauso empfinden, wie wir es uns vorstellen? Diese Sicherheit, immer mit einem unsichtbaren Band verbunden zu sein? Aber ich glaube, unsere Liebe wird sie prägen…genau wie die Liebe unserer Mütter, die wir erfahren durften und vielleicht durch den Tod sogar noch stärker ist als je zuvor. Sei dir sicher, du hast deinen Kindern gezeigt, was Familie bedeutet und das werden sie für immer in ihrem Herzen tragen…und irgendwann an ihre Kinder weitergeben (auch wenn jetzt andere Prioritäten gesetzt werden). Und du wirst immer Teil ihres Lebens bleiben und ihre Wege -mal mehr und mal weniger – begleiten dürfen. Sei stolz darauf, denn dieses Privileg hat nicht jede Mum!!!
Tränen…viele Tränen…
Wunderschön geschrieben!
Ich hoffe und wünsche, dass meine Kinder diese tiefe Liebe spüren
Wunderschön.
Bittersüß und unbedingt lesens- und lebenswert. ♡