Gestern schrieb ich über die Horden, die hier hausen und darüber, dass wir Eltern trotz aller Anstrengung durch die quasi Belagerungen glücklich darüber sind, die Bude voll zu haben. Eins meiner Kinder sagte mal, bei uns sei immer alles erlaubt, weil ich gerne Besuch hätte und froh wäre, wenn alle glücklich sind. Das stimmt.

Alleinsein vs. Clanleben

Es stimmt aber auch, dass ich furchtbar gerne alleine bin. Viel lieber, als früher, bevor ich Kinder hatte. Ich glaube, es ist so: da ich selbst in einem sehr offen Haus aufgewachsen bin, mit zwei Geschwistern und viel Besuch, fand ich es nach meinem Auszug von zu Hause meistens zu leise und zu einsam in meiner ersten Wohnung.

Ich erinnere mich auch, dass in meinem ersten Sommer in dieser Wohnung ständig andere Menschen bei mir hockten. Wir kochten zusammen, oft übernachteten Freundinnen bei mir, wir teilten unseren Alltag und meine Bude war (wie davor und danach) immer voll. Die Wohnung war viel zu teuer für mich, aber nicht nur deshalb zog ich nach einem Semester dort aus und gründete stattdessen mit drei Freundinnen eine WG. Das Zusammenleben mit mehreren mir lieben Menschen war schon eher nach meinem Geschmack. Es war so, wie ich es gewohnt war: das Leben dort war geräuschvoll, die Wohnung immer gut gefüllt mit verschiedenen Menschen, unser Alltag zwischen Uni und Party niemals langweilig.

Aber ich hatte zum ersten Mal im Leben auch wirklich Mühe, Zeit für mich zu finden. Alleinsein wurde zum seltensten Zustand, oft war ich nicht mal im Schlaf allein. Ich liebte diese Zeit, ich liebte das bewegte Leben und den ständigen Input, jede mit anderen geteilte Minute – es war herrlich. Und wenn ich mich mal total überreizt fühlte, fuhr ich übers Wochenende nach Hause, wo ich mich trotz Clanzeit besser zurückziehen konnte. Meinen Geschwistern und meiner Mutter mutete ich einfach zu, die Tür mal hinter mir zu schließen. In der WG fiel mir das schwerer, ich hatte aber auch nie so das Bedürfnis danach. Es war einfach eine ganz besondere Zeit.

Alleinsein lernen

Dann zog ich mit meiner damaligen Lebensgefährtin zusammen, hauptsächlich, weil es ihr in meiner WG oft zu trubelig war und wir so selten wirklich zu zweit waren. Ihr Bedürfnis nach Rückzug war immer schon größer gewesen als meins, aber es machte mir auch nichts, für sie und für diese Beziehung auf mein WG-Leben zu verzichten.

Zu Zweit war das Leben natürlich gleich viel ruhiger. Allerdings stellte ich bald fest, dass das echte Alleinsein jetzt noch weniger stattfand als zuvor, denn das, was das neue Leben als Paar meiner Ansicht nach von mir forderte, war im Grunde die Aufgabe jeglicher Zeit allein. Dachte ich jedenfalls. Etwa eineinhalb Jahre, nachdem wir zusammengezogen waren, trennte sie sich von mir, und wir lösten uns beide aus dieser sehr engen symbiotischen Beziehung. Das (unfreiwillige) Alleinsein, das jetzt folgte, war tatsächlich die erste Phase in meinem Erwachsenenleben, in der ich ganz und gar für mich war.

Ich zog in eine winzige Dachwohnung in der Bonner Altstadt und erinnere mich unwahrscheinlich gut an dieses triumphale  Gefühl, das Alleinsein genießen zu können. Ich hatte mir diesen Zustand nicht ausgesucht, ich hatte ihn mir erobert. Dort saß ich, an einem Samstagmorgen, allein in meiner Küche, mit einem Espresso, einer Zigarette und meiner Süddeutschen. Ich hatte mich nie erwachsener gefühlt.

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Paar sein und Ich bleiben

Dann trat der Mann (wieder) in mein Leben. Nach knapp zwei Jahren Beziehung zwischen zwei Städten und zwei Wohnungen machte er seinen Uniabschluss und schlug vor, zusammenzuziehen. Mein Alarmsystem ging los! Dann würde ich nie mehr für mich sein! Ich hatte das ja schon mal erlebt und war grandios gescheitert. Gerade hatte ich mich im partiellen Alleinsein so gut eingerichtet, ich dachte, ich müsste verrückt sein, das freiwillig wieder aufzugeben.

Aber dann… tat ich es doch. Weil er mir so klar zeigen konnte, dass das Zusammensein in seiner Vorstellung keineswegs die totale Aufgabe unserer eigenständigen ICHs bedeuten würde, im Gegenteil. Dass die wirkliche, echte Bindung zwischen uns genau dann tragfähig wäre, wenn wir genauso wir selbst blieben, wie bisher. Zusammen als Paar und jede*r für sich. Ich kaufte ihm das ab und wagte den Schritt – bis heute habe ich ihn keine Sekunde bereut.

Eltern werden: Nie mehr allein sein

Wieder zwei Jahre später wurden wir Eltern. Wir waren eine Familie! Nichts machte uns glücklicher, nichts machte uns vollkommener, nichts fehlte uns mehr in unserem Leben. Alle unsere Träume hatten sich erfüllt und mehr als das. Ich hatte das Gefühl, dass es nichts Besseres in meinem Leben geben könnte, als Mutter dieses Kindchens zu sein. Und dann noch eines Kindchens und noch eines Kindchens.

Aber obwohl das stimmte und bis heute zutrifft, wurde das Alleinsein zu meinem am seltensten erreichbaren Sehnsuchtszustand. Und auch das trifft bis heute zu. Die Kinder waren immer um uns, vor allem um mich und das war wunderbar und schrecklich zugleich. Kleine Wesen, die jede wache Minute mit mir teilten, die ich fütterte, umsorgte, badete, sie trug und wiegte, ihnen vorlas und mit ihnen Lieder sang, mit ihnen spielte und mit ihnen einschlief, wenn sie im Bett neben mir lagen. Ich begleitete sie durch ihre Baby- und Kleinkindphasen, durch die Kitazeit und in die Schule, durch Krankheiten und Festtage in ihren kleinen Leben. Ich war, gefühlt, nie mehr allein.

Und so sehr ich es liebte, dieses Leben, diese kleinen Tage, so eng mit meinen Kindern, so sehr sehnte ich mich danach, wieder ICH zu sein. Ich vermisste das Alleinsein. Dieses Gefühl, in meiner Dachgeschosswohnung zu sitzen, nur mit einer Zigarette und einem Espresso – und mit mir selbst. Erwachsen fühlte ich mich immer noch, aber ich begriff, dass dieses Art des Erwachsenseins, die die totale Verantwortung für kleine von mir abhängige Wesen beinhaltete, ganz andere Dinge von mir forderte. Es ging nicht mehr um Unabhängigkeit, es ging um Hingabe.

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Sehnsuchtszustand Alleinsein

Heutzutage habe ich meistens eine ganz okaye Balance gefunden zwischen dieser Hingabe, die nach wie vor meine Grundhaltung gegenüber dem Muttersein ist (und mit Sicherheit sowas wie die Grundessenz meiner Liebe zu meinen Kindern) und der Notwendigkeit, allein zu sein. Mich zurückzuziehen. Mich auszuklinken für Momente oder Phasen. Mich abzukoppeln von all den Bedürfnissen um mich herum. Nicht nur von den konkreten Bedürfnissen meiner Kinder, sondern auch von all den anderen Anforderungen des Alltags mit dieser Familie.

Alleinsein ist mein Sehnsuchtszustand und inzwischen sowas wie mein persönlicher Luxus. Ich habe gelernt, die Momente zu erkennen, in denen ich diesen Zustand erreichen kann und sei es auch nur für einen Moment. Es gelingt mir nicht immer. Oft gehe ich noch über meine Grenzen hinaus und ziehe mich nicht rechtzeitig zurück. Oft übergehe ich mein eigenes Bedürfnis nach Rückzug zugunsten der anderen Anforderungen um mich herum. Im Haus der Horden zu leben, macht es nicht immer ganz einfach, für sich selbst zu sein. Das geht nicht nur mir so, das betrifft uns alle, die wir hier im Clan miteinander leben.

Aber Alleinsein ist für uns alle wichtig. Uns selbst zu kennen. Mit uns selbst allein sein zu können. Zu wissen, dass wir okay sind, wenn wir mal alleine sind, gewollt oder ungewollt. Und zu wissen, dass wir okay sind, wenn wir uns im schönsten Familienliebe-Trubel nach dem Rückzug sehnen. Unser Bedürfnis nach Zeit nur mit uns selbst und Zeit miteinander in Balance zu halten.

Das ist ein gutes Gefühl. Ein richtiges Gefühl.

4 Kommentare

  1. Hallo Anna,

    Auch dies kann ich total gut nachvollziehen! Ich liiiiiiiieeeebe es auch, allein zu sein und kann überhaupt nicht verstehen, dass manche das nicht brauchen. ☺️ Das wäre mein Untergang. Am Allerbesten ist es allein zu sein, in der Sonne zu sitzen und ein gutes Buch zu lesen, finde ich. Meinst Du, unser Bedürfnis hängt mit unsere Hochsensibilität zusammen? Liebe Grüße

    • Das habe ich mich auch schon gefragt. Ich weiß es nicht. Ich bin ja nur so, wie ich nunmal bin. Und ob meine Bedürfnisse anders wären ohne HS, das kann ich gar nicht beurteilen. Aber ich vermute ehrlich gesagt, dass alle Eltern das brauchen: allein sein, sich selbst spüren, durchatmen können. Liebe Grüße!

  2. Einfach wunderbar sind Ihre Texte!Ich bin inzwischen glückliche Oma, und seit einigen Jahren schon stille Leserin.
    Und ich fühle alles genauso wie Sie es beschreiben.
    Als Oma von Kleinkindern erlebt man die „ kleinen „ Tage nochmal , gleichzeitig die Schulzeit der größeren Enkel und die Verbundenheit mit den eigenen Kindern.

    • Das hört sich wunderbar an. Ich hoffe ehrlich gesagt auch, dass ich irgendwann das Glück haben werde, Enkelkinder zu haben. Das stelle ich mir wundervoll vor

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