Ich glaube, wir alle kennen das Gefühl, nicht genug zu sein. Und damit meine ich nicht nur, dass wir unsicher sind, ob wir unsere Aufgaben gut und richtig erfüllen. Ich meine den selbstkritischen Blick auf unsere äußere Erscheinung. Nach 48 Jahren komme ich damit inzwischen irgendwie ganz okay zurecht. Aber es schmerzt mich, wenn ich diesen Blick in den Augen meiner Kinder erkenne. Wenn ich sehen muss, wie sie sich selbst ohne die Liebe betrachten, die ich fühle, wenn ich sie anschaue.
Und dann wünschte ich mir, ich könnte ihren Blick auf sich selbst beeinflussen. Könnte mit einem Zauberspruch dafür sorgen, dass sie all das sehen, was ich sehe.
Könntest du dich doch mit meinen Augensehen, mein Kind…
Meine Kinder werden groß und größer. Selbst die Kleinste ist nicht mehr klein, und wenn ich vom Goldkind schreibe, sehe ich vor meinem inneren Auge, wie an dem Attribut “Kind” der Timer tickt. Nicht, dass sie nicht immer mein Kind bleiben würde, nur wird sie kein Kind mehr sein. Ihr wisst, was ich meine. Dieses Großwerden der Kinder beschäftigt mich heute aus einem anderen Blickwinkel als sonst.
Gestern Abend waren wir essen am Strand. Seit letztem Jahr gibt es hier ein neues Restaurant, die Joho Broiler Bar, direkt an einem der Strandübergänge, wo man unkompliziertes und gutes Essen bekommt. Sogar die Vegetarier der Familie werden hier glücklich. Außerdem ist es ein entspannter Ort, kein Chichi, alles sehr basic.
Für Kinder in diesem heiklen Alter ist aber mitunter nichts basic. Stattdessen ist fast jeder Moment in der Öffentlichkeit ein potentieller Spießrutenlauf. Sie richten den überkritischen Blick auf sich selbst und denken, fürchten, rechnen damit, dass es dieser Blick ist, mit dem auch andere sie betrachten.
Und während wir da sitzen, in der Strandbar, während wir lachen und reden und essen und ich uns als Familie und andere Familien um uns her betrachte, sehe ich es: das eine Kind geht sich ständig durch die Haare, sie könnten ja nicht “sitzen”. Das andere Kind richtet verstohlen die Backkamera des Handys immer wieder auf das eigene Gesicht und checkt die Hautunreinheiten. Das nächste Kind sitzt unentspannt da, einen Arm vor der eigenen Mitte, um eingebildete oder tatsächliche “Speckröllchen” zu kaschieren. Ein weiters Kind hält immer beim Sprechen die Hand vor den Mund, wahrscheinlich hat es eine Zahnspange und will sie verbergen. Die Liste lässt sich endlos fortsetzen.
Ich schaue mich um, an einem Ort, der lockerer und angenehmer kaum sein könnte, wo alle im Urlaub sind, wo alle Sand um die Knöchel haben und nicht perfekt geschminkt sind, und ich sehe, wie alle diese jungen Teenies und großen Kinder mit ihrer inneren Heidi Klum kämpfen. In ihren Köpfen erklingt die unerbittliche Stimme und sammelt vermeintliche Mängel, Minuspunkte auf einer Checkliste, die darüber entscheidet, wer besteht und wer nicht. Der strengste Blick ist der in den Spiegel, derjenige, der sich am Außen ausrichtet und nur diese Mängel registriert.
Und in mir wird der Zauberspruch laut. Ich spreche ihn nicht wirklich aus. Aber täte ich es, würde es so klingen…
Könntest du dich doch mit meinen Augen sehen, vielleicht nur für einen Moment, dann würdest dein Blick nicht an deiner Frisur hängen bleiben. Stattdessen würdest du ihn auf das Strahlen in deinen Augen richten, das den ganzen Raum durchqueren kann und dein ganz eigenes inneres Leuchtfeuer sichtbar macht.
Könntest du dich doch mit meinen Augen sehen, dann würdest du dein Lachen sehen, es hören, so hell und unbeschwert, dass es jedes Herz erfreut. Dein Humor ist unvergleichlich, du hast die Fähigkeit zur Selbstironie und bist immer bereit, anderen ein Lächeln zu schenken. Du würdest nicht die Hand vor deinen Mund halten, wenn du lachst, sondern würdest dieses Lachen auf alle abfeuern, die in deiner Nähe sind – und alle wären darüber glücklich.
Könntest du dich doch mit meinen Augen sehen, dann wäre da der Blick auf deine stolze Haltung, die Schultern so gerade und den Kopf erhoben wie eine Königin. So wie du geht sonst keine durch über den Hof, denn du bist einzigartig, genauso, wie du bist. Du würdest erkennen, dass Stolz etwas Wunderbares ist, etwas, das dir Stärke und Schutz bieten kann, wenn es aus dir selber kommt. Du würdest nicht mehr den Kopf einziehen und die Schultern einrollen, damit niemand dich für arrogant hält.
Könntest du dich doch mit meinen Augen sehen, dann würdest du erkennen, dass die Mitesser auf der Nase oder dem Kinn nichts darüber aussagen, wer du bist. Deine Warmherzigkeit und dein Einfühlungsvermögen in andere Menschen sind außergewöhnlich. Wer würde nicht von dir gesehen und getröstet werden wollen? Wer würde nicht gern an deiner Seite sitzen und sich an deiner liebevollen Art wärmen wollen?
Könntest du dich doch mit meinen Augen sehen, dann wäre es dir nicht wichtig, dass dein Wachstumsschub auf sich warten lässt und scheinbar alle im Moment länger sind, als du. Deine innere Größe würdest du sehen, deine Klugheit und deine Fähigkeit, analytisch zu denken, die dich weit größer machen, als viele andere in deinem Alter.
Könntest du dich doch mit meinen Augen sehen, dann würdest du nicht ständig versuchen, nicht aufzufallen, leise zu lachen, auszusehen wie alle anderen, konform zu sein. Du würdest begreifen, wie wunderbar du bist in all deiner Einzigartigkeit. Du würdest deine eigene Unangepasstheit, deine starken Emotionen, das, was du “Anecken” nennst, feiern und begreifen, dass es diese Dinge sind, die dich zu der Person machen, die du bist. Und diese Person ist wundervoll.
Könntest du dich doch mit meinen Augen sehen, mein Kind, dann würdest du wissen und verstehen, dass all das, was dich ausmacht von innen nach außen strahlt. Dass du alles, was du willst, sein und werden und erreichen kannst, mit egal welchen Haaren und egal welcher Haut und mit dem lautesten Lachen und den verrücktesten Ideen.
Du würdest wissen, dass alle Möglichkeiten der Welt in dir sind und du frei bist, zu werden, wer du sein möchtest – wer du sein sollst. Du bist das Buch, das du selber schreibst, dein ganz eigenes Lied, dessen Melodie du selber am schönsten singen kannst. Ich sehe all das in dir und wünschte, du könntest meinen Zauberspruch hören.
Ich wünschte, er würde dich erreichen und sich in deinem Bewusstsein verankern, so dass du ihn immer hörst, wenn du ihn brauchst. Einen Zauberspruch, der immer dafür sorgen könnte, dass dein Blick auf dich selbst liebevoll und voller Großzügigkeit ist. Einen Zauberspruch, wie ihn jedes Kind, jeder Teenie, jede*r Erwachsene zur Verfügung haben sollte, um sich richtig zu fühlen, jederzeit.
Last Updated on 2. August 2021 by Anna Luz de León
3 Comments
Sehr schön geschrieben, das ist die besondere Gabe einer Mutter ihr Kind zu sehen, und auch die Reife einer Frau (ich bin genauso alt wie du) das Schöne an sich und an anderen zu erkennen und zu schätzen. Ich habe lange gebraucht um mich selbst so entspannt und positiv zu sehen und wünschte ich hätte das schon viel früher erkannt, als ich noch jung war und frisch und damals voller Komplexe, die das Leben schwer gemacht haben. Aber die Sicht auf das eigene Kind ist etwas Besonderes und ich denke sie lässt mich auch milder mit mir und anderen werden. Wunderschön in Worte gefasst!
Wieder mal eine zauberhafte Liebeserklärung an deine Kinder .
Seit Jahren lese ich still deine überaus liebevollen Texte. Egal ob es um deine Kinder oder deine verstorbene Mutter geht, die Liebe, die du in deinen Texten zum Ausdruck bringst ist einfach wunderbar.
Und das Schönste ist für mich die Vorstellung, dass deine liebevollen und klugen Worte, deine Gefühle, dein “sein” in deinen Texten für deine Kids immer present bleiben wird.
Es ist wirklich ein Geschenk, eine Mutter zu haben, die ihre Gefühle, Ansichten in dieser schriftlichen Form zum Ausdruck bringen kann. ❤️
Was für ein toller Text! Eine so schöne Liebeserklärung an alle Kinder, Teens und unsicheren Menschen… ich wünschte, ich hätte das als Kind gelesen oder gehört (hätte ich es hören und lesen wollen? Wäre die Verunsicherung wirklich weniger geworden?). Ja, ein Zauberstab wäre großartig! Schönheit strahlt immer von innen nach außen!