Es ist genau ein Jahr her. Vor einem Jahr war für uns der Satz “Mein Kind geht ins Ausland” plötzlich völlig real geworden. Vor einem Jahr haben wir unser großes Mädchen in den Flieger nach Neuseeland gesetzt und sie in ihr bisher größtes Abenteuer geschickt – und uns gleich mit! Denn wer hätte ahnen können, was diese Reise, dieser Einschnitt in unser bisheriges Familienleben, dieser Trip ans andere Ende der Welt mit uns allen machen würde? Wir wussten es vorher nicht.

Jetzt ist ein Jahr seit ihrer Abreise vergangen – in den Depeschen aus Neuseeland habe ich beschrieben, wie das genau war. Und wenn ich sie heute anschaue, wie sehr sie sich verändert hat, dann kann ich kaum glauben, dass das dasselbe Mädchen ist, dasselbe Kind, das ich am Frankfurter Flughafen unter Tränen verabschiedet habe. Diese Reise hat sie verändert, die Zeit in Neuseeland hat sie verändert, aber der Effekt auf ihre Persönlichkeit, die Nachhaltigkeit, mit der diese Erfahrung sie geprägt hat, spüren wir bis heute. Und nicht nur auf sie hatte diese Reise einen so prägenden Effekt. Auch ich bin seitdem anders als Mutter.

Auslandsaufenthalt in Neuseeland | berlinmittemom.com

Mein Kind geht ins Ausland: Am Anfang war der Weg weg von uns

Die ersten Tage ohne sie waren schwer. Ich habe schlecht geschlafen, hatte immer mein Telefon am Bett für den Fall, dass sich da was tut  in diesem fernen Land, auf dessen Boden ich noch nie einen Fuß gesetzt hatte. Ich muss auch sagen, in meiner Vorstellung habe ich meine Kinder immer in Länder geschickt, die i c h bereits gut kenne. Ich sah sie in Frankreich oder Spanien, in England oder vielleicht auch in Portugal, möglicherweise in den USA – aber in Neuseeland? Weiter weg geht es ja kaum. Und dann konnte ich mir nicht mal vorstellen, auf was sie dort treffen würde, hatte nie jemanden von dort getroffen, niemals mehr als ein Foto als Eindruck von dieser fernen Insel gehabt und nur eine vage Vorstellung davon, wie Land und Leute dort wohl sein mögen. Doch das Kind – wählte genau diesen Ort. Oder vielleicht wählte der Ort auch sie? Manchmal gibt es diese Verbindungen, die sich einfach ihren Weg suchen und dann sind sie da. Und sie bleiben und werden stärker und verfestigen sich. Das ist das Ideal.

Als ich nach den ersten 30 Stunden wusste, dass sie gut angekommen ist, als ich wusste, sie hat die schier endlose Fliegerei ganz allein gemeistert, ohne die schützende Kraft einer Gruppe oder vertrauten Person, konnte ich erstmalig aufatmen. Jetzt war sie bei ihrer Gastfamilie, jetzt war sie erstmal dort und konnte sich Schritt für Schritt dort finden und einfügen. Dass das nicht einfach so passieren würde, war mir in der Theorie schon klar. Dass sie nachts anrufen und weinen würde, weil sie vom Jetlag so erschöpft war, sich aber im noch fremden Haus nicht traute, einfach aufzustehen und in der Küche Tee zu kochen und dass ich mich hilflos fühlen würde am anderen Ender der Welt, weil ich ja nichts, aber auch gar nichts t u n konnte, das war mir weniger klar. Aber auch diese ersten Tage gingen gut vorbei und die Gastfamilie kümmerte sich von Anfang an um alles aufs Liebste und Zauberhafteste. Es war, als hätten auch sie nur auf dieses Kind gewartet, mein Kind, das sie aufnahmen, das sie trösteten und lieb hatten und dem sie die Tür zu einer neuen Welt öffneten. Mein Kind geht ins Ausland – nein, es war jetzt dort angekommen und startete ins größte Abenteuer mit allen Höhen und Tiefen.

Leben lernen ohne einander – und doch zusammen

Was kam dann? Wie hat sich unser Leben verändert, als diese eine von uns, die zuerst da war, die aus einem Paar überhaupt jemals eine Familie gemacht hatte, nicht mehr bei uns war? Als unsere einzige Verbindung ein paar WhatsApps waren und gelegentliche kurze Videotelefonate, in denen wir über Raum und Zeit hinweg einander zuwinkten, vom Sommer in den Winter und zurück, zwischen Tag und Nacht, aus der großen Stadt an den Ozean?

Nach den ersten Tagen, in denen ich mich fühlte, wie von einem schmerzlichen und kostbaren Liebeskummer befallen, setzte eine Art Gewöhnung ein. Ich wusste sie sicher, ich wusste, da war ein Leben, das sie beschäftigte, in das sie eingebunden und in dem sie aufgehoben war – und so lange ich nichts hörte, war alles gut. Sie fehlte mir immer und ich dachte immerzu an sie, aber es war nicht mehr der besorgte Gedanke, die bange Frage, wie es ihr wohl gehen und ob sie wohl alles meistern würde. Es war mehr, dass sie uns im Alltag fehlte.

Unser tägliches Leben war, obwohl in den Abläufen ja genau wie zuvor, vollkommen anders ohne sie. Die Dynamik in der Familie war eine andere, so wie jedes Mal, wenn einer von uns Fünfen nicht da ist. Aber so lange hatten wir das vorher noch nie. Es war mitunter ruhiger, einfach weil mit einer Person weniger auch weniger Reibung entsteht in der Interaktion. Aber es war auch einsamer in vielen Momenten und wir sprachen oft von ihr, die Kleinen und ich im täglichen Leben, der Berlinmittedad und ich genauso oft, meistens abends im Bett, wenn wir wach lagen und uns vorstellten, was sie wohl gerade tat. Und obwohl wir so weit entfernt voneinander waren und nur ab und zu kleine Eindrücke voneinander erhaschen konnten, blieb die Leitung heiß. Die Verbindung stand, das war vollkommen klar. Wir mussten einander nicht sehen und anfassen können, um zu spüren, dass wir zusammen gehören.

Die Verbindungen untereinander tragen uns

Was wir lernten? Loslassen, ganz sicher. Vertrauen in das Kind und in uns selbst, dass der Moment richtig und wir für diese Trennung auf Zeit bereit waren. Auch das Vertrauen in die Geschwisterkinder, dass sie mit der neuen Dynamik würden umgehen können und dass sie ebenso lernen würden, die eigene Verbindung zu der fernen großen Schwester zu beleben. Das war übrigens auch der Moment, wo der Bub auf seinem Handy WhatsApp erstmalig nutzen durfte und von nun an selbständig mit seiner Schwester schreiben und Sprachnachrichten oder kleine Videos austauschen konnte.

Unsere Zeit in Neuseeland | berlinmittemomm.com

Ich glaube tatsächlich, dass es auch dafür gut war: dass wir lernten, wie die einzelnen Verbindungen untereinander funktionieren, wenn sie nicht durch den Alltag rhythmisiert werden. Dass plötzlich andere Varianten der Kommunikation nötig sind und damit auch neue Türen aufgehen: wenn wir uns nicht täglich sehen und anfassen können, was müssen wir dann tun, um die Verbindung auszudrücken? Wie können wir kommunizieren und wie können wir der Qualität der Verbindung Ausdruck verleihen, wenn wir auf unser eingespieltes Miteinander nicht zurückgreifen können? Es entstanden mehr “Leitungen” als im Alltag, jeder kommunizierte auf seine Weise und eben auch alleine und nicht immer im Verbund der Familie. Das hat uns einander anders näher gebracht, uns gefordert und dafür gesorgt, dass wir uns weiterentwickeln. Heißt es nicht so? Wer die Komfortzone, also das Altbekannte, verlässt, entwickelt sich weiter? Das trifft auf uns alle definitiv zu.

Denn vor allem die kleinen Geschwister waren von dem ganzen Plan im Vorfeld alles andere als begeistert und sind sehr skeptisch an das Ganze herangegangen: die Große würde wochenlang weg sein? Das fanden sie eine Schnapsidee und auch völlig unnötig. Jetzt waren auch sie gefragt und gefordert und haben sich Wege gesucht, wie sie die Lücke im Alltag füllen und der vermissten großen Schwester nahe sein konnten. Ja, es wurde auch in deren Bett geschlafen.

Das Wiedersehen und die gemeinsame Reise

Und dann… kam das Wiedersehen. Nach sechs langen Wochen machten wir uns auf die Reise nach Neuseeland und ich befand mich erstmalig in der Situation, dass ich ein Land kennenlernen würde, das eins meiner Kinder vor mir gekannt hatte und mehr noch, in dem eins meiner Kinder ein Zuhause gefunden hatte. Ein komisches Gefühl und gleichzeitig ein wundervoller Gedanke. Mein Mädchen hatte dieses Land ganz alleine für sich entdeckt und in sein Herz geschlossen. Das war jetzt i h r Land und sie würde es uns zeigen. Eine großartige Vorstellung und ein Moment, auf den ich mich wahnsinnig freute.

Eine Nacht verbrachten wir in Auckland ohne sie, dann ging es am nächsten Morgen gleich früh zurück zum Flughafen, wo sie aus Wellington ankam, mein großes Kind, so lange so fern und jetzt wieder ganz nah. Ich war aufgeregt und hatte regelrechte Schmetterlinge im Bauch. Wie würde das Wiedersehen sein? Hatte sie sich sehr verändert? Was würde sie alles erzählen? Die Kleinen waren ebenso aufgeregt und hüpften am Gate auf und ab, sie konnten es kaum noch erwarten, ihre große Schwester endlich wieder zu haben. Und dann war sie da.

Und es war abgesehen von der Aufregung der Kleinen ein vollkommen ruhiger und sicherer Moment. Sie kam aus dem Gate, die Kleinen sprangen ihr in die Arme und bis sie die paar Schritte zu uns gemacht hatte, war sie wieder vollkommen bei uns. Es gab keine Hysterie und keine Aufregung mehr, es gab nur die eine lange Umarmung und – wir waren wieder Fünf wie zuvor, es fügte sich eine Hand in die andere und wir gingen den Weg gemeinsam weiter.

Berlinmittekids wieder vereint | berlinmittemom.com

Ich weiß nicht, was mich mehr verzauberte, das Wiedersehen mit diesem großen Neuseelandkind, das gleich anfing, seine Erlebnisse und sein Wissen über dieses wundervolle Land mit uns zu teilen oder diese Ruhe, mit der wir einander alle sofort wiedergefunden hatten. Die nächsten Stunden verbrachten wir jedenfalls damit, einfach alles auszutauschen, was wir erlebt hatten. Und dabei waren ihre Geschichten uns genauso wichtig wie ihr die unseren. Aber die Lücke war schnell geschlossen und als wir uns dann am nächsten Tag auf die gemeinsam Reise über die Nordinsel machten, zu Orten, die wir alle noch nicht kannten, waren wir wieder die Einheit. Das Team. Der Clan. Vollkommen verbunden und bereit für neue Abenteuer.

So habe ich die Phase der ersten längeren Trennung von meinem großen Kind und unser Wiedersehen erlebt und wollte es schon so lange hier teilen. “Mein Kind geht ins Ausland” – das erste und sicher nicht das letzte Mal. Aber für ihre kleinen vierzehn Jahre war das letztes Jahr ein riesiger Schritt. Und für uns alle als Familie ebenfalls.

Mein Kind geht ins Ausland | berlinmittemom.com

Was nach dem Wiedersehen kam war eine große Reise, die Begegnung mit der Kiwi-Familie und die unglaubliche Erfahrung, als Familie von Fünf das Herz mit ganzer Wucht an denselben Ort zu verlieren. Denn Neuseeland hat uns alle voll erwischt und wir sprechen seitdem alle von diesem Ort als unserem Sehnsuchtsort, dem Lieblingsland auf der Welt. Vielleicht sprudelt auch deshalb dieser Artikel heute Nacht so aus meinem Herzen, weil es genau ein Jahr her und die Sehnsucht nach Neuseeland bei uns allen gerade so groß ist.

Ich weiß, ich habe noch viel aus Neuseeland nicht hier verbloggt. Unsere Tage in Wellington zum Beispiel und auch nicht den Roadtrip von Wellington nach Norden zur Bay of Islands, wo wir Silvester verbracht haben. Wollt ihr das hier gerne noch lesen? Was würde euch aus dieser Zeit/Phase noch interessieren? Mehr Neuseeland-Reise-Berichte? Oder noch mehr über die Auswirkungen und Umstände der Zeit, die das Neuseelandkind dort ohne uns erlebt hat?

Ich träume mich jetzt weg in das Land der langen weißen Wolke. Irgendwann sind wir wieder dort, das weiß ich.

9 Comments

  1. Ein ganz toller Beitrag, der so manche Emotion in mir & meinem Auslandsjahr in den USA hervorgerufen hat. Über 15 Jahre später diesen Beitrag aus der Elternsicht zu lesen, hat sehr viel Freude gemacht, vielen Dank!
    LG, Richard & Hugo (vom vatersohn.blog).

    • Lieber Richard, schön, dass du dich wiedergefunden hast. Ich kenne nur die Elternseite, da ich als Jugendliche nie für längere Zeit ins Ausland gegangen bin – das hab ich mich damals einfach nicht getraut und es oft bereut. Dass mein Kind diese Erfahrung machen konnte, hat mich daher umso mehr gefreut. Ganz liebe Grüße an dich und Hugo!

  2. Liebe Anna,

    mich interessiert tatsächlich, wie sich dieser Aufenthalt nachhaltig auf deine Tochter ausgewirkt hat. Ich war mit 15 in Frankreich und erinnere mich noch sehr gut an dieses Gefühl, wieder zu Hause zu sein und zu wissen, dass nichts wie zuvor sein würde. Ich habe meine Heimat damals mit ganz anderen Augen wahrgenommen. Das Reisen war plötzlich selbstverständlich und kein Ort war zu fern für mich. Fremden Sprachen, fremden Menschen und fremden Situationen bin ich nach diesem Aufenthalt mit einem viel größeren Selbstbewusstsein begegnet und gleichzeitig hat mich diese Erfahrung auch ein stück weit von meinem älteren Bruder entfremdet, der bis heute nicht seine Heimat für einen längeren Zeitraum verlassen hat. Er, der sich in unserer Heimat gefunden hat und Wurzeln schlug und ich, die immer in die Ferne schaute, Sprachen lernte aus purer Lust und die Heimat verließ, um der Ferne näher zu sein. Ganz liebe Grüße Julia

    • Das kann ich mir gut vorstellen, dass das so eine Wirkung auf dich hatte! Und ja, das ist ein spannender Punkt. Kommt auf meine Liste! Liebe Grüße, Anna

  3. Liebe Anna,

    ein schöner Bericht :-) Ich weiß, über Geld spricht man nicht…Aber kannst Du vielleicht sagen, mit welchen Kosten -abgesehen von den Flügen- man rechnen muss? Im Internet werden Kosten von 5.000 bis 30.000 Euro für ein Jahr angegeben, das ist ja eine ganz schöne Bandbreite. Und vielleicht nach welchen Kriterien Ihr die Organisation/Schule/Familie ausgewählt habt?

    Viele Grüße nach Berlin
    Karin

    • Liebe Karin,
      vielleicht schon mal ganz kurz: wir haben die Neuseelandzeit komplett privat organisiert, da der Zeitraum zu kurz war, um das über eine der großen Organisationen zu machen. Insofern gab es für uns auch nur die Möglichkeit, alles selbst zu zahlen: die Flüge, das Schulgeld (an einer öffentlichen Schule hätten wir das ebenfalls nicht so umsetzen können, also wurde Schulgeld für die private fällig) und auch das, was die Gastfamilie an Unterhalt für das Kind bekommt – wobei das der kleinste Posten war. Über bestimmte Organisationen gibt es die Möglichkeit, Stipendien oder Zuschüsse zu beantragen, das weiß ich von Freunden, die das für ihre Kinder so gemacht haben. Aber ich nehme deine Anregung mal mit und schreibe mir das auf meine Liste für einen weiteren Blogartikal zum Thema. Liebe Grüße!

  4. Was für ein spannender Beitrag!
    Wir waren gerade (zum dritten Mal) in Neuseeland und unsere 13-Jährige hat dort in Wellington (zum ersten Mal) den Wunsch geäußert, ein Auslandsjahr in Neuseeland zu verbringen. Seitdem läuft das Gedankenkarussell…
    Die Fakten kenne ich als Neuseeland-Profi alle, aber wie es “hinter den Kulissen” zugehen würde, das weiß ich natürlich nicht. Dein Beitrag hilft mir weiter und hat mich schon mal sehr beruhigt :-)

    Liebe Grüße
    Jenny

    PS: Und ja, natürlich lese ich sehr gern noch mehr von deinen Neuseeland-Erlebnissen!

  5. So ein wahnsinnige schön geschriebener, einfühlsamer und liebevoller Bericht der mich sehr berührt hat- wie viele deiner Texte. Danke!

  6. Hallo Anna,
    das war der erste Blogbeitrag den ich von dir gelesen habe.
    Ich bin mit 18 Jahren nach Neuseeland gereist, um dort ein knappes Jahr work and Travel zu machen. Ich erinnere mich, dass meine Mutter ganz ähnliche Worte nach meiner Rückkehr gewählt hat, daher hat mich dein Beitrag sehr an sie erinnert, danke dafür! Inzwischen bin ich ausgewandert ins Land der langen weißen Wolke. Die Reise als ganz junge Erwachsene hat mich nachhaltig sehr geprägt. Es gehört nicht nur Mut dazu, sondern auch das Wissen, dass man auf eine wundervolle Familie bauen kann, die immer für einen da ist, egal wie weit man voneinander entfernt ist. Dass habe ich bei dir auch zwischen den Zeilen wiedergefunden.
    Viele Grüße von Taranaki

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